Lichtlos 1 (German Edition)
sich im Geist eines anderen Menschen niederlässt, ist unvollständig. Vielleicht lädt man diese spezielle Verdammnis doch nicht ein, indem man in die Glotze schaut – aber es ist trotzdem keine kluge Idee, viel Zeit damit zuzubringen, sich im Fernsehen Reality-Shows über die Familien von Berühmtheiten anzusehen, die mit Gorillas in der Wildnis leben.
Ich begreife auch, dass Ardys mit »meine eigene private Tür « die Tür zu ihrem Innenleben meint. Einen Moment lang glaubte sie zu fühlen, wie sie sich öffnete.
Sie leben in der ständigen Erwartung einer Invasion in ihr Inneres und einer Machtübernahme. Wie sie sich unter diesen Umständen fünf Jahre lang ihre Zurechnungsfähigkeit bewahrt haben, übersteigt mein Verständnis.
Obwohl ich annehme, dass Ardys so viel gesagt hat, wie sie zu sagen wagt, hebt sie den Kopf und fährt fort; sie spricht leise und mit einer Stimme, die ermattet klingen könnte, wenn ich nicht wüsste, welche Anstrengung es ihr abverlangt, sie so klingen zu lassen. »Meine Schwägerin Laura ist eine Harmony, aber ihr Ehename ist Jorgenson. Sie und Steve, ihr Ehemann, haben drei Kinder. Das mittlere war ein Junge, der Maxwell hieß. Wir haben ihn Maxy genannt .«
Mich ernüchtert ihre Entschlossenheit, eine Stimme ohne dramatische Betonung beizubehalten und vermutlich auch innerlich die Gefühle zu unterdrücken, die diese Enthüllungen entfachen sollten. Ihre Mühe deutet darauf hin, dass sich die Erscheinung auf irgendeiner Ebene stets der Grundstimmung jedes ihrer Untertanen in ihrem kleinen Königreich bewusst ist. Vielleicht wird sie vor möglichem Ungehorsam gewarnt, sobald einer von ihnen emotional aufgewühlter wirkt als sonst, ganz ähnlich, wie die nationalen Sicherheitskräfte Computer dafür verwenden, Millionen von Telefongesprächen zu überwachen, wobei sie sich nicht etwa jedes Gespräch anhören, sondern sie auf gewisse Wortverbindungen hin abtasten, die auf ein Gespräch zwischen zwei Terroristen hinweisen könnten.
»Maxy hat schon immer außergewöhnlich gut ausgesehen. Erst ein hübsches Baby, dann ein wunderschönes Kleinkind. Von Jahr zu Jahr sah er besser aus. Er war sechs Jahre alt, als sich die Lage verändert hat. Er war acht, als wir gelernt haben, dass es ein Maß an Schönheit gibt, das, sollte es überschritten werden, Neid wachruft und die … Entfernung desjenigen erforderlich macht, an dessen Äußerem Anstoß genommen wird .«
Ihre Fähigkeit, mit derart faden Worten und in einem so unbeteiligten Tonfall über Kindesmord zu sprechen, weist darauf hin, dass sie in den drei Jahren seit Maxys Ermordung Techniken der Selbstbeherrschung entwickelt und verfeinert hat, an denen ich mich niemals messen könnte. Sie ist gespenstisch gefasst, und jede Spur von Aufregung ist unterdrückt, denn das muss sie tun, um am Leben zu bleiben – und jetzt, um ihre Tochter zu retten.
Sie sagt: »Es gibt eine Kurzgeschichte von Shirley Jackson, ›Die Lotterie‹, in der es um eine rituelle Steinigung geht. Jeder muss sich daran beteiligen, damit etwas derart Empörendes und moralisch Abstoßendes als normal und wichtig für die öffentliche Ordnung erscheinen kann und zu einem Moment der Stärkung des Gemeinschaftsgefühls wird. Jene, die an dieser Lotterie teilnehmen, tun es freiwillig. Als jemand, der zu schön war, aus dem ach so trauten Winkel entfernt werden musste, haben sich alle daran beteiligt, einer nach dem anderen, einschließlich Maxy persönlich, aber keiner hat es freiwillig getan .«
Die grauenhafte Szene, die sie mit solcher Zurückhaltung andeutet, lässt mich frösteln wie kaum jemals etwas anderes zuvor.
Ich bin unsäglich dankbar dafür, dass ich unanfällig für die Kräfte dieser mysteriösen Erscheinung bin. Aber dann bete ich, ich möge tatsächlich nicht anfällig dafür sein, denn vielleicht wird der Puppenspieler beim zweiten Versuch einen Weg finden, um meine eigene private Tür zu öffnen.
Ardys spricht jetzt in einem Flüsterton, als sie sagt: »Hier werden bloße Steine als uninspiriert angesehen. Es kommt mehr Fantasie zum Einsatz. Und im Gegensatz zu der Geschichte von Jackson wird das Opfer nicht effizient dargebracht, sondern mit der Absicht, das Geschehen in die Länge zu ziehen, wie man sich bei einem guten Ballspiel wünschen könnte, dass es zu ein paar zusätzlichen Innings kommt, um die Dramatik und die endgültige Befriedigung zu steigern .«
Meine Handflächen sind feucht. Ich wische sie an meiner Jeans ab, ehe ich
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