Lichtlos 2 (German Edition)
rumpelt.
Ob der Sattelschlepper schnell genug fährt oder nicht, wird erst klar sein, wenn er die Pfosten erreicht, aber die Entfernung ist so gering, dass er auf dem Weg nicht viel Schwung verlieren kann. Das vereinte Gewicht des Sattelschleppers und seiner Ladung liegt wahrscheinlich irgendwo um die sechsunddreißig Tonnen herum. Meiner Meinung nach ist das eine unwiderstehliche Kraft, die der Zaun, an sich als unbewegliches Objekt gedacht, nicht aufhalten kann.
Ich halte Schritt mit dem Laster, gebe ihm gewissermaßen das Geleit bis zum Abhang. Dabei habe ich ganz entschieden gemischte Gefühle – Freude, Schuldbewusstsein, Erleichterung, Angst – , als die Pfosten dort, wo sie in den Beton eingegossen sind, abbrechen. Sie zersplittern, purzeln davon und ziehen Stahlseile hinter sich her, die fast so wie Lichtbögen knistern, als sie von einem Pfosten zum anderen springen und der Luft Pfeiftöne entlocken, während sie wüst hinunterwirbeln und aus der Sicht verschwinden. Obwohl der Eindruck entsteht, der Laster könnte an den Betonfundamenten und den Überresten eines der Pfosten hängen bleiben, zögert er lediglich, ehe er sich in die Tiefe stürzt.
15
Diese gruselige körperlose Stimme fordert mich also auf, die schwach erleuchteten Stufen hinaufzusteigen, die so aussehen, als könnten sie sich hinter mir verflüchtigen und mir jeden Rückweg nach unten nehmen, und als Erstes denke ich daran, wie und warum mir meine Eltern immer wieder eingeschärft haben, bloß keine Süßigkeiten von einem Fremden anzunehmen.
Als Zweites denke ich, während ich die Treppe hinaufsteige, an manche der behämmerten Situationen, in die sich Kinder in Märchen bringen. Wie Rotkäppchen Großmutters Haus aufsucht, nachdem Großmutter bei lebendigem Leib gefressen wurde, und dieser Transvestitenwolf, der in Großmutters Nachthemd und mit ihrer Schlafhaube in Großmutters Bett liegt, ist ihr zwar verdächtig und so, aber seine wahre Identität kriegt dieses kleine Doofchen erst mit, als er es tatsächlich auch noch frisst. Wenn der Jäger nicht vorbeigekommen wäre, um dem Wolf den Bauch aufzuschneiden und Großmutter und Rotkäppchen rauszulassen, wären die beiden nichts weiter als … nun ja, Stuhlgang gewesen. Natürlich ist es auch behämmert, dass der Wolf sie angeblich im Ganzen schluckt. Wenn er das versucht hätte, hätte er einen Dachs oder einen Bären oder ein anderes Geschöpf aus den Wäldern gebraucht, das den Heimlich-Griff anwendet.
Am oberen Ende der Treppe ist ein schmaler Laufsteg aus Edelstahl. Das schwach beleuchtete Geländer verschwindet fast in der Dunkelheit links und rechts davon. Und das schummerige Licht reicht gerade aus, um eine Reihe von Stahltüren und großen Fenstern zu sehen, die einen Ausblick auf die Dunkelheit und die irre Kugel bieten.
Die Kugel ist immer noch silbern und schimmernd, ganz schön hübsch für etwas, das so schlechte Schwingungen ausstrahlt. Was mich an Scarlett O’Hara in dem Buch Vom Winde verweht erinnert, das ich kürzlich gelesen habe. Die alte Scarlett ist superhübsch und temperamentvoll, und man muss sie in mancher Hinsicht bewundern, aber man weiß fast von Anfang an, dass dieses Luder auf sechs verschiedene Weisen gestört ist. Ich glaube nicht, dass ich damals hätte leben können, wenn ihr es wissen wollt, weil mich die Sklaverei und dieses ganze Zeug rasend gemacht hätte. Ganz zu schweigen davon, dass es noch kein Fernsehen gab.
Hier oben auf dem Laufsteg, knapp zehn Meter über dem Boden, sehe ich eine Besonderheit der Kugel, die von unten aus nicht sichtbar war. Im oberen Drittel des Dings scheint es rundum eine einzelne Reihe von Fenstern zu geben. Jedes ist vielleicht sechzig Zentimeter breit und dreißig Zentimeter hoch, und sie sind ohne Rahmen versenkt in die Metalloberfläche eingelassen. Wenn man die Größe der Kugel bedenkt, sind die Fenster nicht übermäßig groß. Sie sehen auch nicht nach gewöhnlichem Glas aus. Sie sehen eher nach dicken Platten Bergkristall oder so aus. Dahinter, innerhalb der Kugel, ist dieses tiefrote Licht, durch das sich fürchterliche Schatten unablässig bewegen, formlose und doch verstörende Schatten, die fliegen und springen und sich total verrückt verrenken. Ich mag dieses Ding überhaupt nicht, und das ist mein voller Ernst.
Als ich mich von der Kugel abwende, gehen die Lichter auf der Treppe und dem Geländer aus. Beiderseits von einer der Türen neben dem Laufsteg erhellen sich zwei große Fenster, wenn
Weitere Kostenlose Bücher