Lichtpfade - Die Chroniken der Akkadier II (Gesamtausgabe)
hatte, war unvergleichlich. Berge, Täler, ein endloses Meer aus nachtblauem Schnee. Selbst den Sternen wäre er in Tibet näher als hier, in dieser Ödnis. Eine langweilige Fläche bestehend aus Eis, Steinen und winterharten Pflanzen, soweit man sehen konnte.
Zu der Höhle, in der er die letzten acht Wochen verbracht hatte, war es nicht weit. Unterschlüpfe gab es dank der unzähligen Vulkane genügend. Wenn man nicht achtgab, landete man von ganz allein in einer der kraterförmigen Schluchten, von denen man nie wusste, wie tief sie reichten. Thanju hatte eine Höhle gefunden, die von Touristen um diese Jahreszeit nicht besucht wurde. Auf ungebetene Gesellschaft konnte er gut verzichten. Und der Eingang zum Krater erforderte Geschick beim Klettern, für einen Menschen ohne professionelle Ausrüstung unmöglich.
Nahe dem Hochland konnte man zwischen einsamer Endlosigkeit und endloser Einsamkeit nur schwer unterscheiden. Ein Mensch würde es vielleicht so sehen. Doch in dem Akkadier löste es kein Gefühl aus. Alles, was ihn antrieb, blieb das Versprechen, dass er Diriri gegeben hatte. Lange nach ihrem Tod erst war ihm diese Erkenntnis gekommen. Dass er Rache üben und ihr eine letzte Ehre erweisen würde.
Thanju erreichte einen kleinen Hügel und stapfte schwerfällig hinauf. Oben angekommen spähte er über den Abgrund hinab auf den kleinen See, der vom Wasserfall in Unordnung gebracht wurde. Kalter Wind fegte an Jus Ohren vorbei und wirbelte den einzelnen Zopf an seinem Hinterkopf auf. Er fuhr sich mit der rechten Pranke über die nackte Haut seines Schädels und bemerkte, dass seine Hand zitterte. Die schmutzige Innenfläche verschwamm vor seinen Augen und zu der bleischweren Last in seinem Bauch gesellte sich ein Verlangen – Hunger.
Richtig. Er hatte seit drei Wochen weder gegessen noch getrunken.
Seine rechte Hand ballte sich zu einer Faust, bis die ausgetrocknete Haut über den Fingerknöcheln aufriss.
Hunger.
Das war allerdings ein Problem.
Ohne Nahrung konnte er nicht weiterkämpfen, konnte seinen Plan nicht fortführen, würde Diriri enttäuschen.
Das durfte nicht geschehen.
Ju drehte sich noch einmal um, als das Licht am Horizont schon fast zu stark wurde. Er musste noch einen Tag ohne auskommen. In der nächsten Nacht würde er dieses Problem beseitigen.
Der Würgereiz kehrte zurück.
Ju sprang in den Abgrund, ergriff mit einer Hand die Felsen des Vorsprungs fünf Meter unter ihm und zog sich hinauf. Schwarz und schützend lag die Höhle vor ihm. Er durchquerte die Quelle des Wasserfalls und verschwand in der Dunkelheit.
Elín spürte ihre Gliedmaßen nicht. Alles war kalt, verdammt kalt um sie herum. Sie hörte ein Rauschen in ihren Ohren, das nicht von draußen zu kommen schien. Unter ihrem Körper fühlte sie kalten Stein und die Luft legte sich wie Morgentau auf ihre Haut.
War es Morgen?
Elín versuchte die Augen zu öffnen. Ihre Lider waren zugefroren, auch die Lippen reagierten kaum, schmerzten nur, als würde die Haut bei der ersten Anspannung reißen. Sie konzentrierte sich auf den Rest ihres Körpers. Er musste doch da sein, musste spürbar sein. Immerhin war sie bei Besinnung, also musste sie doch leben.
Plötzlich zuckten Bilder durch ihren Kopf.
Eine weiße Landschaft war an ihr vorbeigezogen. Elín hatte sich bewegt, schnell bewegt. Sie hatte auf etwas gesessen, auf einem Pferd. Genau. Sie war geritten, auf ihrem Pferd. Schwarzes Fell, silberfarbene Mähne. Wunderschön. Doch sie wusste den Namen nicht mehr.
Elín sah sich auf dem Rücken des Tieres durch den Schnee fliegen und jubelte vor Freude. So viel Glück …
Die Bilder verdunkelten sich so schnell, wie sie erschienen waren.
Leere blieb.
Mehr wusste Elín nicht, weder wo sie sich befand noch wie sie hierhergekommen war. Aber sie erinnerte sich an ein paar Dinge aus ihrer Vergangenheit. Zumindest glaubte sie, dass dies ihr Leben war.
Einundzwanzig Jahre alt, Tochter von Jón Ragnarsson und Caja Einarsdóttir. Sie konnte sich an keine Geschwister erinnern, nur an den Hof – ein Pferdehof.
Wärme keimte tief in ihrem Inneren auf.
Elín liebte diesen Hof mit all den Rappen, Schimmeln, Füchsen und dem einen Pferd, dessen Fell schwarz wie kalte Lava schimmerte und dessen Mähne in der Sonne silbern leuchtete – auch Windfarben genannt. Windfarben, natürlich!
Die Wärme strahlte aus einem dunklen Punkt in ihrem Herzen hinaus in den Rest ihres Körpers. Elíns Puls beschleunigte sich, die Haut fing an zu
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