Lichtraum: Roman (German Edition)
Visieren verbargen.
In der ersten Nacht in seiner Zelle war er fest davon überzeugt, dass er den nächsten Morgen nicht mehr erleben würde. Das einzige Fenster über der Toilettenschüssel ging auf einen Hof hinaus, der von einer hohen Betonmauer umgeben war. Ein automatischer Geschützturm, ausgerüstet mit Infrarotsensoren und Bewegungsmeldern, stand auf einem skelettartigen Dreifuß in einer Ecke des Hofs, der ansonsten vollgestopft war mit Paletten, die Notvorräte enthielten; zwischen diesen Stapeln hatte man schmale Durchgänge freigehalten.
Ty hatte beobachtet, wie Wachen drei zerlumpt aussehende
Burschen an dem Labyrinth aus Paletten vorbeischleiften, bis sie das Ende der Mauer erreichten. Einer der Soldaten hielt in schneller Folge seine Pistole an die Hinterköpfe der Männer und erschoss sie mit brutaler Effizienz. Bei jedem Schuss gab die Waffe einen dumpfen, tiefen Knall von sich, den Ty mehr fühlen als hören konnte.
Kurz danach hatte er sich auf die Plastikbank fallen lassen und den Rest der Nacht darauf gewartet, dass er an die Reihe käme. Er stellte sich vor, wie der eisige Wind sein Gesicht peitschte, wie die Kabelbinder seine Handgelenke wundscheuerten, und dass das Letzte, was er sah, die rissige Betonmauer wäre, ehe ein einziger Schuss seinen Hinterkopf zerschmetterte. Doch stattdessen überlebte er den nächsten Tag, und desgleichen die darauf folgenden. Doch in jeder Nacht wiederholte sich dasselbe Drama: Eine oder mehrere Gestalten wurden in den hinteren Teil des Hofs bugsiert und hingerichtet. Aber niemand kam, um ihn abzuholen.
Bis jetzt.
Kosac trat ans Fenster und spähte hinaus. »Sagen Sie«, fragte er, »wie kam es dazu, dass Sie sich mit den Uchidanern eingelassen haben? Wuchsen Sie nicht in der Freien Demokratischen Gemeinschaft auf?«
»Ich wurde auf einer Farm groß, Mr. Kosac. Mein Vater wurde auf Befehl eines korrupten Senators ermordet, und ich musste tatenlos zusehen, wie eine komplette landwirtschaftliche Anlage und mehrere Tausend Morgen Land, alles, was ich einmal erben sollte, meiner Familie gestohlen wurden.« Er zuckte mit den Schultern. »Danach fiel es mir leicht, die Seiten zu wechseln.«
»Ich verstehe.« Kosac rückte vom Fenster ab. »Ursprünglich hatten Sie eine Ausbildung in Biotechnologie, aber dann wechselten Sie den Beruf. Warum?«
»Nachdem ich mich auf das Territorium der Uchidaner begeben hatte, fing ich an, mich für die Atn zu interessieren. Immerhin stellen sie eine Form von extremer Biotechnologie dar. Sie sind nicht das Produkt einer Evolution, sondern eine künstlich konstruierte Spezies, deshalb musste ich mich beruflich nicht groß umorientieren. Ich erhielt ein Forschungsstipendium, für das das Konsortium aufkam, und machte mir einen Namen, indem ich die Atn studierte. Meine Arbeit führte mich kreuz und quer durch den von Menschen bewohnten Teil des Weltraums, und ich verbrachte viele Jahre fernab von meiner Heimat. Doch als sich dann abzeichnete, dass sich ein Krieg mit den Freistaatlern nicht verhindern ließ, wurde ich in die Abteilung Territoriale Forschung und Verteidigung einberufen, als ich schließlich zurückkehrte.«
»Und wegen Ihres Glaubens an Gott erfüllten Sie Ihre Pflicht?«
Ty bedachte ihn mit einem müden Blick. »Der Uchidanismus hat nichts mit Glauben zu tun, Mr. Kosac. Er befasst sich vielmehr mit exakter Logik und unabänderlichen mathematischen Wahrheiten.«
»Na so was«, erwiderte Kosac gleichgültig. »Vielleicht könnten Sie mir das mal näher erklären.«
»Das möchte ich lieber nicht.«
Kosac nickte seinem Begleiter kurz zu. Bleys trat vor, krallte seine Finger in Tys Haar und knallte seinen Kopf gegen die Wand, an der er saß. Ty stöhnte und rutschte von der Bank auf den Boden. Er schmeckte Blut, weil er sich in die Zunge gebissen hatte.
»Tun Sie mir den Gefallen«, forderte Kosac ihn auf.
Die beiden Männer warteten, während Ty sich auf die Sitzbank zurückhievte. Aus seinem Mundwinkel tröpfelte Blut, und Bleys reichte ihm ein Taschentuch. Ty nahm es und presste es an die Lippen, bis er wieder sprechen konnte.
»Uchidanismus ist … also, Uchidanismus basiert auf objektiver Beobachtung und statistischer Wahrscheinlichkeit.«
»Was für Wahrscheinlichkeiten?«
»Dass das Leben, allein aufgrund seiner Beschaffenheit, immer danach trachtet, sich in einem Universum zu erhalten, das endlich ist, und dass das ultimative Ziel einer technologischen Entwicklung darin besteht, die
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