Lichtschwester - 8
östlich des Morgens, sondern östlich des Flusses
Morgen.«
Sofyia war für einen Moment sprachlos. Dann flüsterte sie:
»Wollt ihr damit sagen, die Hexe hätte mich hinters Licht geführt?
Aber als Priesterin der Mondin wird sie mich doch nicht anlügen!«
»Auch ich bin Mondpriesterin, und ich sage dir, niemand gelangt
hinter den Sonnenaufgang.«
»Nein, das kann nicht sein«, beharrte Sofyia mit bebender Stimme.
»Der ganze Stamm hat mir Lebewohl gesagt … Meine Mutter und mein Vater und meine Brüder und Schwestern … ich kann nicht glauben, daß sie mich auf eine Reise in den Tod schickten!«
Nitra schüttelte nur bedauernd den Kopf.
»Wenn die Mondin erst am Himmel aufsteigt, werde ich die Kraft zu meiner Verwandlung schöpfen«, versetzte Sofyia entschieden.
»Ihr werdet ja sehen … ich laufe bald auf vier Beinen zu meinem Volk zurück!«
»Man hat dich hereingelegt und dich zum Narren gehalten«, sagte die Scharfzüngige, die sie eine »Wölfin« gescholten hatte.
»Und selbst wenn du es schaffst, all die Flüsse wieder zu durchqueren und heimzukehren … deine Leute sind inzwischen ja schon längst weitergezogen.«
»Das glaube ich dir nicht«, entgegnete Sofyia steif. »Ich werde hier am Feuer warten, bis ich die Kraft zum Gestaltwandel in mir spüre.«
»Laßt uns allein«, befahl Nitra. Da kamen alle Jägerinnen – sogar die Spötterin - zu Sofyia und klopften ihr verlegen, aufmunternd auf die Schulter und zogen sich dann zurück. Nur Nitra blieb. Und als der Mond über die Berge stieg, saß sie noch immer schweigend am Feuer und starrte nachdenklich in die Flammen.
Und Sofyia? Sie wartete auf den Lustschauder, das unwillkürliche Gefühl, das laut ihrer Familie Verwandlungen ankündigt. Der Mond stieg um eine Handbreit und noch um eine und noch … Es war ein schöner voll gerundeter Mond, wie geschaffen, ihr diese ersehnte Kraft zu geben … Aber nichts dergleichen geschah, und irgendwann mußte sie sich eingestehen, daß all ihr Hoffen vergeblich gewesen war. Die tiefe Verzweiflung, die sie am Fluß gespürt, befiel sie erneut, ergriff von ihr Besitz und umschloß ihr Herz gleich einer starken Faust und quetschte es aus, bis ihr nichts mehr blieb als ihr Leid.
Da warf sie den Kopf in den Nacken und heulte aus tiefster Seele zum Himmel auf. Aber ihr Geheul erleichterte und befriedigte sie nicht, da es ja nur eine Nachahmung war, die aus einer unheilbar menschlichen Kehle kam. Sie war nun östlich des Morgens und würde sich trotzdem nicht verwandeln können … Traurig zog sie die Knie hoch, begrub ihr Gesicht zwischen den Beinen und verharrte lange in dieser Haltung. Als ihr aber nach einer Zeit bewußt wurde, daß Nitra ja auch noch da war und sie bestimmt beobachtete, flüsterte sie: »Bitte geh. Du mußt dich bald verwandeln, und ich könnte es nicht ertragen, das mit anzusehen.«
»Ich gebiete über keinen Zauber!« erwiderte Nitra.
»Du bist keine Werwölfin?« staunte Sofyia, hob rasch den Kopf und blinzelte scheu zu ihrer neuen Freundin hinüber. »Aber ihr hattet heute abend doch frisches Fleisch. Wer hat diesen Hirsch getötet? Eure Männchen? Ich habe noch keines zu Gesicht bekommen. «
»Ha!« schnaubte Nitra und reckte sich. »Hier in Sauromatien leben Frauen und Männer getrennt voneinander. Wir kommen nur zu-sammen, um Kinder zu zeugen. Wir jagen und kämpfen jedoch ganz auf eigene Faust.«
»Was?« fragte Sofyia baff. »Ihr … könnt gar nicht Wolfsgestalt annehmen?«
Nitra schüttelte energisch den Kopf.
»Oh, das tut mir leid.«
»Das braucht dir nicht leid zu tun«, versetzte Nitra und musterte sie mit dem eindringlichen Blick ihrer blauen Augen. »Dein Stamm hat wohl die alte Sage vergessen, die erzählt, daß die Neuri, Sauromatier und Skythen, ja, alle Menschen, aus Tieren hervorgegangen sind … Wir Sauromatier haben uns fürs Menschsein entschieden, als die Mondin uns allen, Männern wie Frauen, vor langer Zeit erklärte, daß wir mit Hand und Hirn sehr viel mehr anfangen könnten als mit Zähnen und Klauen.
Die Neuri aber weigerten sich, ihrer tierischen Natur zu entsagen.«
»Selbstverständlich! Wieso sollte man auch ausschließlich Mensch sein wollen, wenn man wie ein Wolf laufen kann?!«
»Ich frage mich, wie menschlich die Neuri eigentlich sind«, sagte Nitra, erhob sich rasch entschlossen und wischte sich flüchtig den Hosen-boden ab. »Hör, ich muß zum Hügel dort, um die Mondin zu befragen.« Und schon
Weitere Kostenlose Bücher