Lichtspruch nach Tau
heißt.«
»Maria.«
»Maria, Maria, Maria«, sagte er. »Maria!«
Diese Freude und Trübsal, Wiederfinden und Verlieren… Warum?
»Ich glaubte die ganze Zeit, du wärest ein gewöhnlicher Räuber.«
»Jetzt glaubst du es aber nicht mehr.«
»Nein. Du bist etwas Schlimmeres, stimmt’s?«
»Vielleicht… Ich hoffe aber trotzdem, daß du mich nicht als Banditen betrachtest.«
»Nein. Wer bist du?«
»Das kann ich dir nicht sagen. Du bist sehr schön.«
Maria strich mit der Hand über ihr Gesicht. Sie war nicht darauf gefaßt. Alles war zu schnell gegangen, und sie war gezwungen, alle ihre Kräfte anzuspannen, um etwas Übermenschliches durchzustehen.
»Nur weil ich mich in der Bibliothek verspätet habe«, flüsterte sie. »Ich schreibe eine Arbeit über die Träume und Alpträume des achtzehnten Jahrhunderts… Die Tür, durch die ich hereingekommen bin, ist die Bibliothekstür. Ich hatte Geräusche gehört.«
»Träume und Alpträume… Verzeih mir. Ich mußte allein sein.«
»Allein wozu?«
»Ich bringe dich nach Hause.«
Sie flüsterten und sahen einander in die Augen.
»Ja.«
»Unter einer Bedingung.«
Sie war am Ende ihrer Kräfte, brachte aber trotzdem unter Tränen die Frage heraus: »Wer stellt hier Bedingungen?«
»Ich. Wundere dich nicht. Du darfst keine Fragen stellen.«
Maria seufzte. »Nicht einmal, wie du heißt?«
»Stel.«
»Stel«, wiederholte sie traurig. »Mach das Licht aus… Stel.«
Beide gingen an dem hellen Fleck auf dem Fußboden vorbei, an der Stelle, wo sich der Olympier noch vor ein paar Minuten erhoben hatte. Dann traten sie in den ersten verödeten Saal ein. Marias Lippen zitterten. Stel faßte sie um und spürte in seiner Hand ihre runde Schulter. Das Mädchen ertrug es, daß sich ihr Hals zuschnürte. Nun drehte sie sich nicht mehr um, um die kahlen Stellen an den geplünderten Wänden zu sehen. Gesenkten Hauptes und mit geschlossenen Augen schritt sie wie automatisch dahin und brachte kein Wort hervor, während sie von einem Saal in den anderen gingen, auch nicht, als sie die Treppe hinunterstiegen. Der Nachtpförtner döste in seiner Loge an der Tür, so wie Stel ihn zuvor gesehen hatte.
»Gute Nacht«, flüsterte das Mädchen und spürte den Druck der Finger, die ihre Schulter umfaßten. Der Pförtner fuhr hoch.
»So spät noch?« fragte er und rieb sich die Augen.
Er war ein rotbäckiger Alter mit einer Glatze wie eine Spielwiese inmitten von silbergrauem Haar.
»Ich habe mich verspätet«, sagte Maria mit zugeschnürter Kehle. »Ich habe mit… mit dem Spezialisten aus dem Institut gearbeitet.«
»Habt ihr jungen Leute nichts Besseres zu tun?«
Achselzuckend griff der Alte nach dem Schlüsselbund und schloß ihnen auf.
»Gute Nacht«, sagte Stel.
»Bis morgen«, sagte Maria, und ihre Worte trafen ihn schmerzlich.
Als sich die Tür hinter ihnen schloß, konnte er sich nicht mehr beherrschen und sagte mit finsterer Miene, indem er seinen Arm von den Schultern des Mädchens zurückzog: »Du hast bis morgen gesagt. Weißt du denn wirklich nichts? Ahnt niemand etwas?«
»Langsam werde ich verrückt«, stöhnte Maria und hielt die Fäuste vor den Mund. Ein abgehackter Laut entrang sich ihrer Kehle wie ein kleines, unbeholfenes Lebewesen, das gerade hervorschießen wollte. »Weshalb quälst du mich?«
»Ich werde dich niemals quälen…«
Doch die Art, wie er die Worte flüsternd hervorgebracht hatte, erschütterten sie mehr als deren Inhalt. Sein Gesicht erschien versteinert.
»Du hast von mir verlangt, daß ich keine Fragen stelle…«
Der Marktplatz war nun leer, und die Einsamkeit des Reiterstandbildes in der Mitte ließ ihn noch leerer erscheinen. Die Kakteen ragten unförmig auf.
»Nichts«, sagte er und hatte seinen Blick auf den erstarrten Galopp gerichtet. Dabei erinnerte er sich, wie dieser am nächsten Tag aussehen würde. »Komm… Nein, nicht da lang!« rief er plötzlich, als er sah, daß sie die Treppe hinuntergehen wollte.
Dort links sollte sich für immer der gebrochene Schatten eines Menschen abzeichnen. Des alten Pförtners? Er biß sich auf die Lippen.
»Ich hätte mir nicht träumen lassen, daß ich so unvermittelt von den Alpträumen des achtzehnten Jahrhunderts zu dem Alptraum komme, den ich jetzt erlebe«, sagte sie. »Weil es nur ein Alptraum ist… Nichts Wirkliches. Dich gibt es nicht, das Museum ist nicht leer, ich bin zu Hause und wache gleich auf…«
»Wach auf.« rief Stel wieder, zog Marias Antlitz an sein Gesicht und drückte seine Lippen auf ihre
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