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Lichtspur

Lichtspur

Titel: Lichtspur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Moriarty
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was tun sie, wenn sie eine Kristalldruse finden?«
    »Sie kommen meistens nur runter und gaffen sie an. Das Gleiche, was die Leute machen, wenn der Papst kommt.«
    »Und?«
    Sein Gesicht erstarrte. »Und nichts.«
    »Was ich da eben in Ihrem Gesicht gesehen habe, war mehr als nichts. Sie haben gerade beschlossen, mir etwas zu verheimlichen, und ich wüsste gern, wieso.«
    »Ich habe nicht beschlossen, Ihnen etwas zu verheimlichen. Ich halte nur nichts davon, Gerüchte wiederzugeben. Sehen Sie mal, ich habe doch auch nicht alle Leute erwähnt, die angeblich für die provisorische IRA gekämpft haben, oder? Denn offensichtlich entspricht es nicht der Wahrheit. Es ist nur dummes Geschwätz.«
    »Nun ja«, sagte Li. »Viele von ihnen haben tatsächlich für die provisorische IRA gekämpft.«

    McCuen starrte sie an. »Das ist doch nicht wahr«, sagte er, und selbst im Lampenlicht sah Li den verwunderten Ausdruck in seinem Gesicht. »Wer denn zum Beispiel.«
    »Zum Beispiel Chuck Kinney.«
    »Er ist ein Konstrukt!«
    »Und? Auch der Barkellner im Molly. Scheint jedenfalls
    so. Oh, und diese beiden Brüder, die Rotschöpfe, die vier oder fünf Jahre älter sind als ich.«
    »Mutt und Jeff?«
    »Meine Güte, nennt man sie immer noch so?«
    »Na ja, schauen Sie sich die beiden an.«
    Li lachte. »Also, was treiben sie dem angeblich unwahren Gerücht zufolge da unten?«, fragte sie und hoffte, dass McCuens Klatschstimmung den Themenwechsel überstehen würde.
    »Oh, es ist sehr viel unheimlicher als diese IRA-Geschichte. Mehr eine von diesen Geschichten, mit denen man Kindern Angst macht, damit sie parieren.« Er grinste. »Ich glaube, meine Tante oder jemand anderes hat’s mir erzählt. Und … Sie wissen wirklich nichts davon?«
    »Manchmal schon. Manchmal vergesse ich’s wieder.« Sie grinste. »Das werden Sie früh genug erfahren.«
    »Na gut. Also, über die Kristalldrusen wird erzählt, dass die Priester Leute dort runterbringen und … und sie an irgendetwas verfüttern.«
    Li lachte. »Wie, ritueller Kannibalismus?«
    »Ich habe Ihnen doch gesagt, es ist lächerlich.«
    Es ist wirklich lächerlich, wollte Li sagen. Aber bevor sie den Mund aufmachen konnte, drehte sich auf einmal das Gewölbe um sie, und sie erlebte einen weiteren Flashback.
    Sie sahen ihren Vater und ihre Mutter. Aber sie waren kleiner als beim letzten Mal, seltsam geschrumpft. Es dauerte ein wenig, bis sie dahinterkam. Sie selbst hatte sich verändert, nicht ihre Eltern. Diese Erinnerung war jünger.
    Sie versuchte ihre Gesichter zu erkennen, aber es gelang ihr nicht. Sie wusste auf eine abstrakte Weise, wer sie waren, aber ihre Gesichtszüge blieben ihr verborgen. Als ob beide eine leere weiße Maske trugen, die für Mutter oder Vater stand. Als ob sie gar keine Gesichter hätten.
    Zwei Männer standen neben ihrem Vater, von Schatten umhüllt. Einen erkannte sie an der Haltung seiner Schultern und der Narbe, die sich über seine Kehle zog: Cartwright. Den anderen, dünn, drahtig, den Kopf eingezogen, konnte sie nicht recht einordnen. Li sah ihre Mutter an und bemerkte, dass sie leise weinte und Tränen über ihre Wangen strömten. Sie warf ihrem Vater noch einen Blick zu und erstarrte fast vor Entsetzen.
    Seine Brust war verschwunden. Sie sah nur ein dunkles Loch, das alles Licht der Kristalle verschluckte und selbst die bogenförmigen Rippen des Gewölbes in sich einzusaugen drohte. Er lächelte sie an – oder vielleicht lächelte er einfach nur. Langsam, ohne den Blick von ihr abzuwenden, hob er eine Hand, führte sie in das schwarze Loch in seinem Körper ein und zog einen dicken Stapel Papier hervor.
    Li sah das Papier, die knochige, vernarbte Hand, die es hielt, sogar das rußige Gummiband, das den Stapel zusammenhielt. Sie sah alles, nahm alles zur Kenntnis, verarbeitete es mit der surrealen Genauigkeit einer Traumvision. Worum es sich handelte, sah sie nicht – sah sie erst, als es zu spät war, als es sich schon in ihre Hand brannte.
    Es war Geld. Geld, das sie vor fünfzehn Jahren ausgegeben hatte.

SecServ. UNSR-Hauptquartier: 22.10.48.
    N guyen saß an ihrem Schreibtisch unter den hohen Fenstern. Rötliches Sonnenlicht glänzte auf ihre Uniformjacke, funkelte von ihren Epauletten, hüllte ihre aufrechte Gestalt in einen rotgoldenen Lichthof.
    »Also«, sagte sie. »Der Stationschef hat Kristalle beiseitegeschafft. Glauben Sie. Aber soweit ich sehe, haben Sie keine Beweise, außer dass Sie annehmen, er habe seine Freundin misshandelt.

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