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Lichtspur

Lichtspur

Titel: Lichtspur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Moriarty
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würde, falls die weitreichenden Handelsverbindungen der UN abrissen oder die Atmosphärekonverter oder Impfstationen je aufgegeben wurden.
    Sie gingen um eine Ecke wie jede andere, und Ramirez blieb so plötzlich stehen, dass Li mit ihm zusammenstieß. »Da rein«, sagte er und schob sie in ein kleines, fensterloses Zimmer.
    Als die Tür zuknallte, erkannte Li, dass man sie in eine der alten Arrestzellen des Labors eingesperrt hatte. Es war ein kleiner Kasten mit schalldichten Wänden, einer mit Metall verkleideten Tür, ohne Möbel, Fenster oder fließendes Wasser. Ein Kasten für eine Person. Sie hörte hinter der Tür das Echo der Schritte und das Scheppern einer weiteren Tür, die zugeschlagen wurde. Dann nichts mehr.

    Eine bruchstückhafte Erinnerung ging ihr durch den Kopf: eine Geistergeschichte über eine Gruppe von Kindern, die in die Labors eingedrungen waren und einen von ihnen zum Scherz in eine der Arrestzellen eingesperrt hatte. In einer der unwahrscheinlichen, kindischen Wendungen, die für solche Geschichten typisch sind, waren sie zurück nach Shantytown gerufen worden. Als sie am nächsten Morgen zurückkamen, konnten sie die Zelle nicht mehr finden, in der ihr Freund saß. Sie liefen den fensterlosen Korridor auf und ab, rüttelten an jedem rostigen Schloss und drückten die Essluken von unzähligen düsteren Schlupfwinkeln auf. Der Junge war tot, als sie ihn schließlich fanden – der internen Logik der Gerichte zufolge umgebracht, und zwar vom Geist eines brutal ermordeten Konstrukts.
    Li schauderte. Wie viele psychisch nicht der Norm entsprechende Konstrukte hatten in dieser Zelle kalte Nächte und lichtlose Tage hindurch ausgeharrt? Wie viele waren hier gestorben? Und wie viele Menschen, die sich auf den Straßen von Shantytown frei bewegten, waren die Kinder dieser Toten oder Laborwächter oder Labortechniker oder Schreibtischtäter, die geholfen hatten, sie umzubringen? Die Kinder erinnerten sich an sie, auch wenn es sonst niemand tat; sie erzählten sich Gespenstergeschichten über die Skelette, die ihre Eltern nicht tief genug vergraben hatten.
     
    Die Scharniere quietschten, als die Tür aufgeschoben wurde. Ein Lichtkeil fiel in die Zelle, nach der langen Dunkelheit fast unerträglich grell. Ramirez erschien in der Tür, strahlend und furchterregend wie der Erzengel Gabriel.
    Li rappelte sich mühsam auf und saß schließlich mit schwindelndem Kopf an der Wand. Ein Gefühl im Bauch sagte ihr, dass sie sich besser hinlegen sollte. Sie ignorierte es.

    Ramirez legte einen Finger an die Lippen. Pssssst.
    Sie stand zitternd auf, schämte sich und war zugleich entsetzt darüber, dass ihr ein paar Stunden allein in der Dunkelheit so zugesetzt hatten. Sie wusste, dass sie sich fragen sollte, wohin Ramirez sie bringen würde, und dass sie nach einer Möglichkeit suchen sollte, die Situation in den Griff zu bekommen. Aber sie konnte an nichts anderes denken, als rauszukommen aus diesem von Gespenstern heimgesuchten Loch. Und nicht umzukippen.
    Mitkommen, gab Ramirez ihr mit einem Wink zu verstehen.
    Sie gehorchte.
    Neben Ramirez ging ein anderer Mann, dessen Namen sie nicht kannte und den sie noch nie gesehen hatte. Nicht Louie. Nach ein paar Ecken verschwand Ramirez, und Li und der namenlose Entführer gingen ohne ihn weiter. Jemand gesellte sich zu ihnen, während sie in den dunklen Korridor einbogen, aber als Li zurückzublicken versuchte, grunzte ihr Begleiter nur und stieß sie voran.
    Sie drangen tiefer in den Komplex vor, bis in die fensterlosen Labors im Schatten des Felsabhangs. Sie hatten fast einen Kilometer zurückgelegt, als der Entführer eine Tür ohne Aufschrift öffnete und Li einen Schwall kalter, unterirdischer Luft im Gesicht spürte. Der Mann trat zur Seite und winkte sie durch. Als sie an ihm vorbeiging, hörte sie das leise Klicken einer Kugel, die in ein Patronenlager geschoben wurde.
    Das war’s dann, sagte eine leise Stimme aus ihrer Magengrube. Sie sah vor ihrem inneren Auge eine nackte Wand und glaubte einen Schuss zu hören.
    »Da runter«, sagte der Entführer und schob sie eine steile Treppenflucht hinunter, die ins Finstere führte.
    Dreißig schmale Stufen aus Stahlbeton. Eine Biegung. Ein Gang. Dann noch vierzig Stufen, diesmal rau und uneben
unter den Füßen. Dann ein langer, gewundener Gang, der unmissverständlich abwärtsführte.
    Die Person hinter Li strauchelte und schrie auf. Es war Bella.
    Je tiefer sie kamen, desto feuchter wurden Boden und Wände.

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