Lichtspur
Bella gerichtet. Und Bella ließ es geschehen.
»Erschieß ihn!«, schrie Li. Aber Bella stand da wie versteinert, vor Schrecken gelähmt, wie am Rande eines Abgrunds, über den sie nicht hinwegspringen konnte. Li wirbelte herum, streckte die Ellbogen durch und feuerte einen einzelnen Schuss über Bellas Kopf und durch die Augenhöhle des Wachmanns.
Kintz stürzte sich auf sie, bevor sie sich wieder zu ihm umdrehen konnte. Natürlich griff er ihren verletzten Arm an. Damit hatte sie gerechnet. Sie hatte allerdings nicht geahnt, wie schnell der Arm sie im Stich lassen würde.
Bella versuchte zu helfen. Li sah aus den Augenwinkeln, dass sie die beiden Kontrahenten umkreiste, die Beretta steif vor sich ausgestreckt hielt und zu entscheiden versuchte, wohin sie zielen sollte. Als ob sie wüsste, wie man zielt.
»Nein, Bella!«, schnauzte Li. »Nicht schießen. Nimm dir den Lufttank und verschwinde. Ich komm nach, wenn ich kann.«
Kintz ließ ihr keine Zeit, um sich zu vergewissern, ob Bella ihr gehorchte. Er war ihr technisch unterlegen, aber sie war angeschlagen, durch ihren lädierten Arm und die Strapazen, die sie in den letzten paar Stunden durchlitten
hatte. Und durch fünf Jahre, zwanzig Zentimeter und dreißig Kilo, die Kintz ihr voraushatte.
Er schleuderte sie mit Wucht gegen die Stollenwand und warf sich auf sie, bevor sie ihre Arme oder Beine anziehen konnte. Er drehte sie auf den Bauch, rammte ihr das Knie ins Kreuz und bog ihren verletzten Arm so brutal nach hinten, dass sie nicht atmen konnte, ohne das Ziehen von zum Reißen gespannter Sehnen zu spüren.
Sie hörte, dass er nach seinem Gürtel griff, hörte das Klicken von Handschellen, die geöffnet wurden. »Ich könnte Sie gleich hier umbringen«, sagte er, »aber Nguyen hat uns schon wegen Sharifi die Hölle heiß gemacht. Heute ist Ihr Glückstag.«
»Nicht hinter meinem Rücken«, sagte sie, als er die erste Handschelle zuschnappen ließ. »Es sei denn, Sie wollen mich tragen.«
Er hielt inne, rollte sie herum, und sie streckte die Hände aus, während er den zweiten Virustahlring um ihr Handgelenk legte und mit einem Finger einen komprimierten Code eintippte.
Jetzt, nachdem er sie überwältigt hatte, ließ er sich Zeit. Es schien fast so, als ob er auf etwas wartete. Er filzte sie, fuhr mit den Händen ihre Schenkel auf und ab, berührte sie zwischen den Beinen. Während sie ihn beobachtete, ging ihr durch den Kopf, dass sie jetzt allein mit ihm war.
»Sie müssen auf Gilead ja richtig Scheiße gebaut haben«, stichelte sie. »Oder waren Sie einfach so elend imkompetent, dass man Ihnen danach nicht einmal einen richtigen Job bei den Friedenstruppen angeboten hat?«
»Sie sollten lernen, den Mund zu halten«, sagte er und schob eine Hand unter ihr Hemd.
Sie ließ ihm den Spaß. Der Mund stand ihm offen, und der Atem ging etwas schneller. »Sie sind jämmerlich«, sagte sie.
Er hielt ihre Beine fest und stieß sie flach auf den Boden. »Umdrehen.«
»Haben Sie nicht den Mumm, mir dabei ins Gesicht zu sehen?«
Er schlug sie so hart, dass sie nicht einmal mehr den Schlag spürte. Als sie zu sich kam, lag er auf ihr und fummelte bereits an seinem Gürtel. Er bekam ihn schließlich auf, aber die Hose und der Riemen am leeren Halfter der Beretta erforderten zwei Hände. Li verschränkte ihre Hände zu einer doppelten Faust, holte aus, und nutzte den zusätzlichen Schwung aus, den ihre Implantate durch das Gewicht der Handschellen entwickelten.
Sie erwischte ihn an der rechten Schläfe. Nicht die beste Stelle, aber der Schlag betäubte ihn – und hinterließ einen langen Riss in seiner Kopfhaut, der ihm mit ein bisschen Glück in die Augen bluten würde.
Er rappelte sich schwankend auf und wollte ihr mit Gewalt gegen die Rippen treten, aber sie rollte sich bereits davon.
Li schaute sich um, als sie sich gegenüberstanden. Die Waffe war außer Reichweite. Sie konnte sie nicht schnell genug erreichen. Kintz aber auch nicht – ohne einen Tritt von Lis immer noch tödlichen Beinen zu riskieren.
Dies wäre ein guter Zeitpunkt, Bella, dachte sie. Aber natürlich war Bella nirgendwo zu sehen.
»Du verdammte Grubenschlampe«, sagte Kintz. »Du dreckiger, stinkender Mischling!«
Li lachte. Sie wusste nicht, woher das Lachen kam, aber plötzlich erschien ihr alles lächerlich und jämmerlich, von Kintz’ müden Beleidigungen bis hin zu der Tatsache, dass sie beide für einen Planeten kämpften, den zu verlassen ihre Vorfahren ihr ganzes Leben
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