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Lichtspur

Lichtspur

Titel: Lichtspur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Moriarty
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über die falschen Leute stellte.
    Der Hijacker erwischte sie zwanzig Minuten, nachdem sie ins UN-Grid zurückgekehrt war.
    Das erste Anzeichen für Schwierigkeiten war ein leichtes Kräuseln im Zahlenmeer. Ringsum erstarrte der Stromraum, erbebte, zerfiel in asynchrone Splitter. Als sich alles wieder zusammenfügte, hatte Li das Gesicht einer blauäugigen Latina vor Augen. Vierzehn, vielleicht fünfzehn Jahre alt mit Babyspeck am Kinn und auf den Wangen. Und mit einem Nasenring aus gehärtetem und poliertem Stahl. Gute natürliche Gene.
    Li stieß einen virtuellen Seufzer der Erleichterung aus und entspannte sich. Es war ein Anarcho-Girl, irgendeine verzogene Möchtegern-Hacker-Göre, die das VR-Equipment ihrer wohlhabenden Eltern benutzte. Etwas so Hübsches konnte einem kaum gefährlich werden, nicht einmal im Stromraum.
    Sie lächelte und schloss das Fenster.
    Nichts geschah.
    , befahl sie, aber es bewirkte nichts.
    Wieder geriet ringsum der Stromraum ins Stocken. Als er wieder im Takt war, änderte sich die Augenfarbe des Anarcho-Girls. Von Blau nach Braun, von Braun nach fast Schwarz. Und auch das Gesicht, das zu diesen Augen gehörte, veränderte sich. Er schmolz, verzog sich, nahm eine neue Form an, und schließlich starrte Li in ein Gesicht, das sie nur zu gut kannte. Ein Gesicht, das ihr vor fünfzehn Jahren aus dem zerkratzten Spiegel eines Body-Shops in Shantytown entgegengestarrt hatte.
    Sie wich zurück, aber der Entführer war schneller. Eine Hand zuckte hervor und krallte sich in ihre Halsschlagader, noch bevor sie sich umdrehen konnte.

    Sie trat und biss. Sie versuchte das VR-Fenster zu schließen, aber es gelang ihr nicht. Sie versuchte sich aus der VR- in die Codeebene fallen zu lassen, um wenigstens zu erkennen, womit sie es zu tun hatte. Sie versuchte alles abzuschalten und musste feststellen, dass ihr Realraum-Kanal deaktiviert worden war.
    Die Hand drehte sich und ließ Li in Schmerz und Dunkelheit stürzen.
     
    Der Schmerz in ihrer Kehle ließ nach, und sie konnte wieder halbwegs Atem schöpfen. Sie kauerte in einem dunklen, von einem scharfen Geruch erfüllten Raum und hielt etwas in der Hand.
    In ihrem Kopf hämmerte es. Sie spürte einen dumpfen, brennenden Schmerz in den Lungen, der sie an etwas erinnerte … an einen Ort.
    Sie konnte nicht klar sehen, und was sie erkennen konnte – Werkzeuge, Kabel, eine schemenhafte Computerkonsole – ergab keinen Sinn. Sie bewegte sich, machte etwas mit den Händen, manipulierte ein kleines Gerät, dessen Funktion sie nicht kannte. Sie bemühte sich, den Blick zu heben, um einen Eindruck von ihrer Umgebung zu bekommen, aber es war unmöglich. Ihre Hände, ihre Augen, ihr ganzer Körper schienen sich aus eigenem Antrieb zu bewegen.
    Eine klaustrophobische Panik erfasste sie. Im Moment war sie ein Gespenst, eingeloggt in den Körper einer anderen Person, und erlebte eine digitalisierte Erinnerung aus der Vergangenheit oder der Gegenwart oder vielleicht auch eine reine Simulation. Sie konnte keinen Einfluss auf die Wiedergabe der Erinnerung ausüben. Sie konnte auch nicht beurteilen, wie stark diese Erinnerung bearbeitet worden war oder ob sie überhaupt auf einem realen Erlebnis beruhte. Sie konnte nichts anderes tun, als die Sache
durchzustehen und zu hoffen, dass sie dann wieder loskommen würde.
    Ein Geräusch. Etwas bewegte sich.
    Die andere, die sie war, stand auf, drehte sich um.
    Eine Gestalt trat aus den Schatten hervor. Eine Frau, dachte Li, aber kaum zu erkennen. Ihre Perspektive war zusammenhanglos, verzerrt, als benutze sie Augen, die keine Ahnung hatten, was sie da sahen.
    Der Körper, in dem sie steckte, sagte etwas, aber alles, was sie hörte, war ein hohes, schnatterndes Gewinsel, wie das jämmerliche Geschrei eines Tieres. Wenn dieses Gewinsel aus Worten bestand, dann in einer Sprache, die ihr unverständlich war.
    Die düstere Gestalt kam auf sie zu. Für einen Moment konnte sie deutlicher sehen, und der Schatten erhielt ein Gesicht – ein blasses Gesicht, verhangen von langen, dunklen Haaren.
    Die Hexe.
    Sie streckte die Arme aus, spürte die straffe Hüfte der Hexe unter ihren Händen, zog den warmen Körper des Mädchens an sich.
     
    Weißes Licht. Endloser Raum. Schneidender Wind.
    Berge ragten über ihr empor, höher als jeder Berg im realen Universum, von schwarzem Eis umrandet, von weißen Gletschern überzogen. Der Himmel über ihr glühte in der eisblauen Farbe großer Höhen – eine Farbe, die sie nur einmal zuvor

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