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Lichtspur

Lichtspur

Titel: Lichtspur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Moriarty
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Am Strand von Tel Aviv. Letzteres war offenbar ein neues Foto, erkannte Li; aus dem Bilderrahmen blickte sie Rolands Gesicht an.
    Und dann gab es natürlich noch die Romane. Cohen und seine Romane: Stendhal, Balzac, die Brontë-Schwestern. Manchmal hatte Li den Eindruck, dass er mehr über Menschen in Büchern als über echte Menschen wusste.
    Sie zog ein Buch aus dem Regal. Es knackte in ihrer Hand und verströmte einen kräftigen, aber nicht unangenehmen Geruch nach Leder, Leim und Papierstaub. Sie öffnete es an einer zufälligen Stelle:
    »Was meint Ihr, Jane, ob Ihr mir irgendwie ähnlich seid?«
    Ich konnte diesmal keinerlei Antwort wagen: mein Herz stand still.
    »Manches Mal nämlich«, sagte er, »weckt Ihr in mir ein eigenartiges Gefühl – besonders wenn Ihr in meiner Nähe seid, so wie jetzt: Es ist, als hätte ich eine Saite unter meiner linken Rippe, die eng und unlösbar verknüpft ist mit einer ähnlichen Saite im selben Bereich Eures zarten Körpers. Und wenn dieser lärmende Kanal oder zweihundert Meilen Land oder mehr zwischen uns sind, fürchte ich, dass dieser Faden der Gemeinsamkeit reißen könnte; und dann habe ich das bestürzende Gefühl, ich müsste innerlich verbluten. Und was Euch angeht – Ihr würdet mich vergessen.«
    »Warum behältst du diesen Mist?«, fragte sie Cohen, die Nase noch im Buch. Sie hatte ihm den Rücken zugewandt, konnte aber die Belustigung in ihrer Stimme nicht
verbergen. »Bücher sind giftig. Ich habe allein durch das Aufschlagen achtzehn verschiedene Schimmelarten eingeatmet. «
    »Ich habe ein Faible für überholte und altmodische Technologien. Warum würde ich sonst so viel Zeit mit dir verschwenden? «
    Li lachte und schlug das Buch zu. »Da wir schon über altmodische Technologien reden: Du weißt doch, dass Sharifi aus den XenoGen-Geburtslabors stammte, oder?«
    »Allerdings. Genau wie du.«
    Li erstarrte und sah ihn immer noch nicht an. »Genau wie meine Großmutter.«
    »Natürlich.«
    »Hat Sharifi mit dir je darüber gesprochen?«
    »Nicht direkt. Aber sie hat über Compsons Planet gesprochen. Sie lebte dort bis zu ihrem achten Lebensjahr. In irgendeinem Waisenhaus in Helena. Mit Nonnen.«
    »Klingt lustig.«
    »Am meisten hat mich beeindruckt, warum sie in diesem Waisenhaus gelandet ist.«
    »Und?«
    »Sie war blind.«
    Li drehte sich um und sah ihn mit großen Augen an.
    »Sie war blind zur Welt gekommen. Hatte etwas mit dem Sehnerv zu tun. War leicht zu korrigieren, ihre Adoptiveltern haben es behandeln lassen. Aber ihr Geburtslabor hat eine Kosten-Nutzen-Analyse vorgenommen und beschlossen, sie lieber auszusortieren als die Operation zu bezahlen.«
    »Gütiger Himmel«, flüsterte Li.
    »Ich bezweifele, dass der Himmel viel damit zu tun hatte. Wie heißt doch dieser Spruch? Bete zur Heiligen Jungfrau; Gott warf einen Blick auf Compsons Planet und kehrte zur Erde zurück. Wie auch immer, Hannah zufolge hat das
Waisenhaus, in dem sie aufwuchs, zahlreiche Konstrukte aufgenommen, die die Labors aufgrund geringfügiger Defekte auf den Straßen ausgesetzt hatten. Da bekommt das Gerede von der Veräußerung der Betriebskosten eine ganz neue Bedeutung. ›Die billigste Technik ist menschliche Technik‹, sagte sie immer gern. Und sie hatte wirklich recht. Der Ring, die UN, der interstellare Handel, alles hängt ab vom Blut und Schweiß von ein paar Hunderttausend Bergarbeitern, die die erste Hälfte ihre Lebens unter Tage verbringen und in der zweiten Hälfte an einer Staublunge verenden.« Er lachte. »Das ist im positivsten Sinne viktorianisch. Oder einfach nur menschlich.«
    Li spürte eine leise Wut auf Cohen, weil … ja, warum eigentlich? Weil er darüber redete? Darüber lachte? Weil er davon wusste und sich trotzdem seines luxuriösen Lebens erfreute? Aber er hatte recht, so wie auch Sharifi recht gehabt hatte. Und hatte sie selbst Compsons Planet nicht so schnell wie möglich verlassen? War sie nicht genauso entschlossen, sich ihre Scheibe vom angenehmen Leben abzuschneiden und nicht zu viel darüber nachzudenken, woher das Kondensat, das dieses Leben erst möglich machte, eigentlich stammte?
    Sie schob das Buch ins Regal zurück und ging weiter die Wand entlang bis zu Cohens Schreibtisch. Sie nahm ein offenes E-Papier in die Hand und warf einen Blick auf den Bildschirm:
     
    Das Zeitalter der einheitlichen empfindungsfähigen Organismen ist vorüber. Sowohl die Syndikate wie die UN-Mitglieder ringen zurzeit darum, nicht den Anschluss an diese

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