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Lichtspur

Lichtspur

Titel: Lichtspur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Moriarty
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auf die Idee gekommen, mit diesem Begriff zu bezeichnen, was sie im Spinstrom tat. »Ich bin mit zweitausend anderen in einer Brutstation aufgewachsen. Ich habe nie in einen Spiegel gesehen, weil in der Brutstation sowieso alle das gleiche Gesicht hatten. Ich habe nie darüber nachgedacht, wer ich bin, weil ich mich nur umzuschauen brauchte, und
dann wusste ich es. Und jetzt bin ich hier. Ich verstehe nichts und niemanden. Ich sehe ringsum Leute, die zu mir sprechen. Ich bin eine Abweichlerin. Und es gibt keinen Ausweg.«
    »Es gibt immer einen Ausweg«, sagte Li.
    »Nicht für mich. Nicht einmal die Euthanasiestation. Ich dachte, ich sei … in Ordnung. Bevor Hannah kam. Aber wenn ich jemanden wie Hannah kennenlerne, jemanden wie Sie …« Sie wischte ihr Gesicht ab und schob sich das schwere schwarze Haar aus der Stirn. »Ich kann nicht anders, ich will unbedingt mit Ihnen reden. Ich will das Gefühl haben, dass ich keine Minute allein bin. Und dann zeigen Sie mir … das da. Und ich weiß nicht, was ich denken soll.«
    »Sharifi wurden von Menschen aufgezogen«, sagte Li. »Ich auch.« Seit fünfzehn Jahren war sie nicht mehr so nah daran gewesen einzugestehen, dass sie ein Mensch war.
    »Macht das einen solchen Unterschied?«
    »Ich glaube schon.«
    Bella wischte sich die Augen ab, bevor sie antwortete. »Ich erinnere mich an den Tag, bevor das Feuer ausbrach. Ich habe mit Ha… mit Sharifi gearbeitet. Wir haben darüber gesprochen, ob wir am nächsten Tag in die Grube fahren sollten, aber wir haben nichts entschieden. Nicht endgültig. Als Nächstes erinnere ich mich, dass ich nach dem Feuer im Bergwerk aufgewacht bin.«
    Ihre Hand kroch wieder den Hals hoch, und Li konnte unter den Fingern den Puls flattern sehen wie einen Vogel in der Schlinge eines Jägers.
    »Es war dunkel. Ich … sie waren alle verschwunden.«
    »Was soll das heißen, sie waren alle verschwunden? War vorher jemand bei Ihnen?«
    »Nein. Vielleicht.« Sie wirkte verwirrt. »Ich weiß es nicht.«

    »Wo waren Sie, als Sie aufgewacht sind?«
    »In der Kristalldruse. Es hat lang gedauert, bis ich daraufgekommen bin. Das Licht war aus, und ich hatte keine Lampe. Ich … ich bin zurückgekrochen und habe nach der Leiter gesucht. Dabei habe ich dann Voyt gefunden.«
    »Voyt?«, fragte Li überrascht. Er hätte sich eine Ebene über ihr befinden müssen, am Fuß der Treppe, die zum Wilkes-Barre-Stollen hinaufführte. »Sind Sie sicher, dass es Voyt war?«
    »Ich habe seinen Schnurrbart ertastet«, sagte Bella, und wieder bemerkt Li ein Schaudern vor … Was? Furcht? Ekel? »Ich habe allerdings keine Lampe gefunden. Und … da lag noch eine Leiche.«
    »Am Fuß der Treppe.« Das wäre Sharifi gewesen.
    »Nein. Bei der Leiter. Neben Voyt. In der Kristalldruse.« Bella legte eine Hand an ihren Mund. »Das war Hannah, nicht wahr?«
    Li nickte. Es musste Hannah gewesen sein; sonst war niemand da unten gestorben. Aber angenommen, dass Bella die Wahrheit sagte, dann hatte jemand die Leichen von Voyt und Sharifi eine Ebene nach oben getragen und am Fuß der Haupttreppe abgelegt, die in den Trinidad-Stollen führte, damit die Rettungsmannschaft sie finden würden. Aber warum? Und wer hatte das getan?
    »Ich bin auf sie getreten.« Bella wirkte krank. »Ich bin nicht einmal stehen geblieben.«
    »Sie war zu diesem Zeitpunkt schon lang tot«, log Li. »Sie hätten ihr nicht mehr helfen können.«
    Bella wollte noch etwas sagen, aber als sie den Mund aufmachte, war aus dem Vorzimmer Haas’ Stimme zu hören.
    »Ich sollte jetzt gehen«, sagte Li.
    »Nein! Warten Sie.«
    Li war aufgestanden, hockte sich nun aber vor die Frau hin, sah ihr in diese unmöglichen Augen und suchte in dem
makellosen, ovalen Gesicht nach einem Hinweis, einer Antwort, irgendwas.
    »Die Mistkerle sind damit durchgekommen, nicht wahr?«, fragte Bella, und ihre Stimme war immer noch ein raues Flüstern. »Sie haben sie umgebracht. Und niemand wird sie dafür bestrafen.«
    Li war ihr jetzt nah genug, um sie zu riechen. Nah genug, um die bitteren Falten um ihren schönen Mund zu sehen, die fleckige Blässe der Haut, die sich über ihre Wangenknochen spannte. Bella sah aus wie ein Boxer, der einen K.o.-Schlag eingesteckt hatte und darauf warte, dass die Schwerkraft ihn einholte. Und in den violetten Tiefen ihrer Augen sah Li die gleiche schwarze Leere, die sie unten an der Schnittkante gesehen hatte.
    Nur hatte sie diesmal einen Namen dafür.
    Es war Hass. Ein Hass, der gehegt, genährt und

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