Liebe 2.0
Gruppendynamik ist eine
Wissenschaft für sich. Ich muss schnellstmöglich den tragenden Pfeiler der
Clique ausmachen und mich gut mit ihm stellen, denn eine einzige Bemerkung
seinerseits reicht, um mein ganzes Vorhaben zum Einsturz zu bringen. Fingerspitzengefühl
ist gefragt.
„Nächstes
Wochenende kommen die Musikproduzenten John Meyers und Axel Rick ins Hilton und halten da ein Casting ab. Ihr habt vielleicht schon mal von den beiden
gehört?“, frage ich in der Hoffnung, dass meine eigene Unwissenheit auf ein
Generationenproblem zurückzuführen ist.
„Nöööö“,
antwortet es im Chor.
Mist. Doch kein
Generationenproblem. Eher ein Freie-Mitarbeiterin-Problem. Denn plötzlich hängt
die Kommunikation am seidenen Faden. Jetzt bloß nichts falsch machen!
„Die haben
einige bekannte Bands unter Vertrag“, versuche ich die Jugend weiter zu locken.
„Zum Beispiel…“ Hektisch ziehe ich meinen Notizblock hervor, auf den ich in
aller Eile noch ein paar Namen von Musikprojekten der Herren Meyers und Rick
gekritzelt habe. Wie unprofessionell, schelte ich mich im Stillen. Nennst du
das etwa Vorbereitung?
Meine Augen
überfliegen mein Geschreibsel, und vor Nervosität kann ich kaum etwas
entziffern. „Moment…ähhhh… So Fuck ? Ähh, ich meine… Suck ?“
Hm, das kann ja wohl nicht ganz stimmen… „Ähhh… ach, das ist ja eine Zahl… Uh,
natürlich! 50 Bucks !“, rufe ich schließlich erleichtert aus. „Genau!
Die haben die beiden produziert! Und Vanity for four ! Und Everland !“
Vanity for
four? Everland? Nie gehört. Wahrscheinlich treten sie hauptsächlich auf
Baumarkteröffnungen auf, mit dem VIP-Bereich direkt hinter der Hüpfburg und anschließender
Autogrammstunde für ein paar verirrte Senioren. Die armen Schweine… Doch trotz
meiner aufkeimenden Zweifel lasse ich mir nichts anmerken und starre Beifall
heischend in die Runde, als handle es sich bei 50 Bucks um ein
Nebenprojekt von Lady Gaga .
Die Runde starrt
befremdet zurück.
Okay, das hat
doch alles keinen Sinn! Wenn ich mir jetzt nicht ganz schnell etwas überlege,
bin ich geliefert. Entnervt werfe ich den Block weg und rede Klartext. Ehrlich
währt am längsten. „Also, hört zu, die Sache ist die: Totallokal ist
Sponsor für ein Casting im Hilton . Es handelt sich nicht gerade um DSDS ,
aber dafür werdet ihr auch nicht verarscht, weder jetzt noch später. Ich suche
einfach ein paar Leute, die mir ein bisschen was ins Mikro singen, um im Radio
vorab Werbung für die Veranstaltung zu machen. Habt ihr Lust?“
Gemurmel wird
laut, Blicke werden getauscht. Schließlich ergreift der Bonzen-Junge erneut das
Wort, und das Lächeln, das er mir zuwirft, ist für sein Alter überraschend
abgeklärt. „Ja, klar, und dann heißt es bei euch im Radio: Wenn ihr Erfolg
haben wollt, dann singt bloß nicht so wie diese Flachpfeifen, die wir euch
jetzt vorspielen! Und wir sind die Doofen.“
Gar nicht so
dumm, der junge Mann! Ich schätze selbständiges Denken. Dennoch will ich mich
gegen eine solche Unterstellung verwahren und Einiges klarstellen. „Zugegeben:
Ich weiß nicht, ob und wie gut ihr singt. Aber wie schon gesagt, es will euch
hier keiner was Böses. Im Radio kann euch niemand sehen, nur hören. Und
selbstverständlich werden auch eure Namen nicht genannt. Das Ganze ist vor
allem als Spaß gemeint – für alle Beteiligten.“
Abwarten.
Ich merke schon,
die Damen und Herren wollen sich bitten lassen. Das ist ein Problem, das ich
vorher nicht bedacht habe: Gymnasiasten stehen dem Leben viel zu selbstbewusst
gegenüber. Sie sind der Überzeugung, eine gute Bildung würde einen davor
bewahren, sich zum Affen machen zu müssen. Welch fatale Fehleinschätzung!
Vielleicht sollte ich ihnen mal ein bisschen von mir und meiner eigenen so
genannten ‚Karriere’ erzählen…
„Kommt schon,
ich muss diesen Beitrag unbedingt fertig stellen, und ihr wärt mir wirklich
eine riesige Hilfe. Ich krieg’ sonst richtig Ärger mit meinem Chef!“ Mein
letzter Trumpf: Das kleine Mädchen spielen und an den Schützerinstinkt
appellieren. Ich kann nicht sagen, dass ich stolz drauf bin, aber es hat sich
in Notlagen bisher immer bewährt.
Weiter
Schweigen.
Diese Teenies
sind echt mein Everest! Doch gerade als ich frustriert das Handtuch werfen und
mich auf den Weg zur nächst gelegenen Berufsschule machen will, bricht das
Eis.
„Na gut, okay,
wir machen mit!“
Dem Himmel sei
Dank!
„Fein!“, sage ich und mache mein Aufnahmegerät
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