Liebe 2.0
fertig. „Wer will was
singen?“
Die nächste halbe Stunde herrscht
das reine Chaos. Über Short Message Services und andere
Kommunikationswege informiert, strömen immer mehr Schüler in den kleinen Raum
und umzingeln mich, und ich habe Probleme, die nötige Ruhe herein zu bekommen.
Zwischendurch frage ich mich ernsthaft, ob ich wirklich Abiturienten oder nicht
doch eine Kindergartengruppe vor mir habe – etwa als ein junger
Zahnspangenträger spontan an Tourette erkrankt und in einem fort Obszönitäten
ins Mikrofon brüllt. Oder wenn so manch braver Schlager infolge einschlägiger
Textänderungen plötzlich keine Jugendfreigabe mehr bekommt… Aber es sind auch
ein paar wirklich schöne Aufnahmen dabei: aktuelle Chartlieder, deren
leidenschaftlich-unmusikalischer Vortrag eine so charmige Mischung ergibt, dass
sie unseren Zuhörern unter Garantie ein Lächeln aufs Gesicht zaubern wird. Es
ist schon süß, zu sehen, wie einer nach dem anderen über seinen Schatten
springt. Und ein bisschen bin ich auch geschmeichelt, denn immer mehr Jungs
entwickeln sich zu wahren Minnesängern. Und da sage mal einer, Galanterie sei
out!
Bei meinen
Geschlechtsgenossinnen fällt mein Frauen-Bonus jedoch leider weg. Sie sehen
keine Veranlassung, mich zu beeindrucken, was wirklich schade ist, denn ich
brauche unbedingt auch weibliche O-Töne. Aber die Mädels weigern sich bis
zuletzt, mitzumachen. Selbstironie lehrt einen halt erst die Zeit. Und während
ich selbst für meinen Geschmack mittlerweile deutlich zuviel davon habe, gönne
ich der Jugend ihren Stolz und hake nicht weiter nach. Ich werde schon noch
fündig.
Als es
schließlich zur nächsten Stunde klingelt, bedanke ich mich herzlich und
verabschiede ich mich von der schon lieb gewonnenen Meute – nicht ohne gefühlte
zwanzig Mal zu sagen, wann der Beitrag ungefähr gesendet wird.
Jetzt muss ich
aber wirklich los, das Wasserschloss wartet. Hoffentlich gibt es Schnittchen,
so ein Casting macht nämlich verdammt hungrig!
Vier
Die Pressekonferenz im
Wasserschlösschen verlief zum Glück etwas ruhiger als das improvisierte
Vorsingen, doch ich hatte zugegebenermaßen Mühe, meine Verärgerung über die
fehlenden Schnittchen zu verbergen. Bei unserem kläglichen Gehalt sind wir
unfreien Mitarbeiter schließlich darauf angewiesen, dass uns bei PKs mindestens
Kekse angeboten werden. Und wenn ich mir die Gesichter der üblichen
Verdächtigen in Erinnerung rufe, die mit mir an der langen Tafel im Speisesaal
(!) des restaurierten Landadelssitzes saßen, stehe ich mit meiner Meinung nicht
alleine da. Katrin vom Kurier sah sogar kurzzeitig so aus, als würde sie
gleich in Tränen ausbrechen… Und die Presse blicket stumm auf dem leeren
Tisch herum!
Immerhin habe
ich beim anschließenden Umweg über den Bäcker noch meine fehlenden
Mädchenstimmen einsammeln können, und das ist ja auch nicht zu verachten. Ich
lief gerade selig kauend die Fußgängerzone entlang, als ich sie sah: sehr groß,
sehr dünn, sonnenbankgebräunt, die Hüftjeans mit Krönchen auf den Pobacken in
hochhackige Stiefelchen gesteckt, und über dem bauchfreien Top ein
Zotteljäckchen, für das mehrere Polyester ihr Leben lassen mussten. (Und,
zumindest wenn es einigermaßen gerecht zugeht im Leben, der Designer
hoffentlich auch.) Kurz: Drei Engel für Julia – ideal für meine Zwecke.
Nachdem ich hastig mein Brötchen verstaut hatte, kramte ich auch schon
nach dem Aufnahmegerät und pirschte mich an die jungen Damen heran, die
beieinander standen und aufgeregt kicherten. Auf meine Frage hin, ob sie kurz
Zeit hätten, wirkten sie zunächst etwas überrascht, aber dann stellte sich
heraus, dass ihr fragender Blick auf die bogenförmig aufgemalten Augenbrauen
zurückzuführen war und sich auch dann nicht entspannte, als alle Unklarheiten
beseitigt waren. Aber egal. Entscheidend ist, dass mich meine Menschenkenntnis
tatsächlich nicht im Stich gelassen hatte, denn die drei Katzenberger-Clone waren
direkt begeistert, etwas in mein Mikro trällern zu dürfen. Und nachdem ich
ihnen fairerweise gesagt hatte, dass mein Beitrag vor allem lustig gemeint wäre,
verloren sie auch noch die letzten Hemmungen und sangen mit einer solchen Inbrunst,
dass sogar einige Passanten stehen blieben und applaudierten. Am Ende hatte ich
die Hälfte der Yamba -Klingelton-Charts zusammen – mal Solo, mal als
Duett, mal im Chor – und gab Destiny’s Child noch die genauen
Daten des echten Castings. Für mein ermunterndes „Geht
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