Liebe 2.0
Dass ich mir durchaus zutrauen darf, zu
leben. Weil ich entgegen meiner eigenen Überzeugung sehr wohl noch Gefühle
habe, die lieben und wiedergeliebt werden wollen. Und dass ich so viele
Sprachen sprechen kann, wie ich will. Mit wem auch immer ich möchte.
Selig lasse ich
mich an Jonas’ Schulter fallen, blicke auf das Dornröschen und genieße den
Frieden, der sich in mir ausbreitet. Endlich habe ich sie: Die perfekte
Erinnerung an eine fast perfekte Beziehung.
Zweiundvierzig
Kaum ist der
Heiligabend da, ist er auch schon wieder vorbei. Manche Dinge ändern sich eben
nie. Während Clara selig in ihrer neuen Zauberer vom Waverly Place -Bettwäsche
schläft, sitzen wir Erwachsenen noch beisammen und plaudern über das Übliche.
Wie bei Charles Dickens ziehen die Geister der vergangenen, gegenwärtigen und
zukünftigen Weihnacht in einem bunten Reigen an uns vorüber, und es wird viel
gelacht und auch ein bisschen geweint. Erst als mein Vater und Tristan auf die
aktuelle Politik zu sprechen kommen, wird der Ton etwas auf- und die
Sentimentalität heruntergedreht. Aber auch das gehört irgendwie zu Weihnachten
dazu – nur ohne mich, ich gehe ins Bett. Das Malen nach Zahlen -Bild, das
Clara mir geschenkt hat und das noch feucht schimmert, weil meine Schwester wie
jedes Jahr mit ihrem Zeitplan nicht ganz hingekommen ist, lasse ich erst einmal
im Wohnzimmer, bis sich die Öldämpfe soweit verflüchtigt haben, dass ich es in
einem geschlossenen Raum aufhängen kann. Hauptsache, Clara kommt nicht noch auf
die Idee, morgen in aller Frühe die zahlreichen verbliebenen weißen Felder
nachträglich auszumalen. Irgendwie gefällt mir der unfertige Charakter der
idyllischen Häschenwiese; ich stehe sowieso mehr auf die Expressionisten und
habe dem Kunstwerk schon einen ganz besonderen Platz in meiner Küchenzeile
zugedacht.
Als ich oben in meinem Zimmer bin,
scheint alles wie sonst auch – und ist doch ganz anders. Denn was immer hier
drinnen gefangen war, es ist erlöst worden. Ich fühle mich regelrecht geflasht
von den positiven Vibes, die mich durchströmen, und so dauert es eine ganze
Weile, bis ich merke, dass zumindest ein Teil des aufgeregten Brummens auf eine
Quelle außerhalb meines Körpers zurückzuführen ist: Mein Handy ist auf
Vibrationsalarm gestellt und fällt beim Betteln um Aufmerksamkeit fast vom
Nachttisch, als ich es gerade noch erwische.
„Hallo?“
„Selber hallo!“ Es
ist Martin, unverkennbar. „Habe ich dich geweckt?“
Etwas benommen
schüttele ich den Kopf, besinne mich dann aber auf den Trick bei auditiven
Medien und füge hastig hinzu: „Nein! Nein, hast du nicht.“
Ich weiß auch
nicht, aber irgendwie könnte ich mir Martin auch gut bei einer Bezahl-Hotline
vorstellen. So Telefonsex für Intellektuelle, bei dem er statt übers Vögeln
über Fontane spricht. Denn was alleine Martins Stimme an rauem Sex
transportiert, ist schon jugendgefährdend. Behaglich lehne ich mich zurück und
fühle, wie ich langsam in einem Klangmeer aus Testosteron versinke…
„Gut. Ich wollte
dir auch nur ein frohes Weihnachtsfest wünschen. Wo bist du gerade?“
„In meinem
Bett.“
„Wie schön…“
Womit sich das
Fontane-Niveau auch schon langsam verabschiedet… Schnell versuche ich
halbherzig, dem entgegenzusteuern. „Bei meinen Eltern.“
„Wie schade!“
Ich muss lachen.
„Und du? Was machst du?“
„Och… Ich
zelebriere einen klassisch-melancholischen Single-Heiligabend: Am Kamin sitzen,
ins Feuer starren, Wein trinken, Nick Cave hören… Ich glaube, es kleidet mich
ganz gut.“
„Schade nur,
dass dir keiner dabei zusieht.“
„Ja, das stimmt,
in der Tat.“
Ich sehe Martin
vor mir, einsam und erhaben in seiner Wohnung sitzend, und meinen Körper
durchrieselt ein leises Kribbeln. Ich weiß nicht, ob es Bewunderung ist oder
Sehnsucht, aber es verschlägt mir die Sprache, so dass Martin notgedrungen
wieder das Wort ergreift.
„Hör mal…
nachdem wir die letzten Male eher dienstlich miteinander zu tun hatten, will
ich doch darüber unsere private Beziehung nicht vernachlässigen… Zumal ich
unseren letzten gemeinsamen Abend wirklich sehr schön fand.“ Das Kribbeln
verstärkt sich. „Und schon aus dramaturgischen Gründen wäre ich unbedingt für
eine Fortsetzung… – Was meinst du?“
Mir schwirrt der
Kopf. Wie gerne würde ich mich in diesem Moment von Martin entführen lassen –
in eine Welt, die nicht danach fragt, ob man auf der gleichen Zeitebene
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