Liebe 2.0
und
mache mich auf den Weg zu meinem eigenen Weihnachtsspektakel.
Als ich den eingeschneiten
Marktplatz überquere, komme ich mir vor wie auf einer Kitsch-Postkarte. Der
Schnee knirscht unter meinen Sohlen und bildet eines der wenigen Geräusche in
der stehenden Kälte, die sich wie eine Glocke über den Stadtkern gesenkt hat.
Außer mir ist niemand mehr unterwegs. Kaufmann und Hirte machen es sich hinter
den geschlossenen Türchen des Glockenspiels gemütlich, und auch der
Marktbrunnen ist stillgelegt: Kein Wasser plätschert aus den schmiedeeisernern
Rosenbäumen. Keine Kinder hängen lachend an den Figuren, die seinen Rand säumen
und mit ihren beweglichen Gliedern zum Spielen einladen… Auch ich habe hier
viele Sommer über geplanscht und getobt, genau so wie nach mir Tristan und nach
ihm Clara. Dieser Brunnen ist absolut zeitlos. Und vielleicht ist es genau
dieses Wissen, das den mit Frost überzogenen Figuren hilft, so geduldig den
Winter zu überdauern. Weil die Erfahrung sie gelehrt hat, dass der nächste
Frühling definitiv kommen wird.
Eingehend
betrachte ich die Figuren, als sähe ich sie heute zum ersten Mal. Es sind
insgesamt vier an der Zahl: Ein Bischof, ein Schütze, ein Clown und ein
Dornröschen. Der zusammen gewürfelte Trupp hat irgendetwas mit der Geschichte
der Stadt zu tun – aber dafür habe ich mich schon als Kind nicht großartig
interessiert. Viel wichtiger war es, dass das Dornröschen am Ende den schmucken
Schützen heiratete, wobei der Bischof die Trauung vollzog und der Clown die
Torte für die anschließende Feier stiftete.
Ich gehe ein
paar Schritte auf den Brunnen zu. Und dann, ehe ich es mich versehe, turne ich
wie früher über den Brunnenrand und wecke die Figuren aus ihrem wohlverdienten
Winterschlaf. Ich verdrehe dem Clown seine riesigen Füße, tanze eine Runde mit
dem stolzen Schützen und versuche, Dornröschens Arme über ihren Kopf in eine
anmutige Ballettpose zu heben. Das ist nicht ganz einfach, weil die Gelenkschmiere
eingefroren ist. Aber schließlich klappt es. Zufrieden betrachte ich mein Werk
und will gerade den Bischof bewundernd in Dornröschens Richtung drehen, als ich
eine seltsam vertraute Stimme höre.
„Hallo Julia!“
Elektrisiert
halte ich in meiner Bewegung inne. Dieser angeraute Klang. Diese Sprachmelodie
- - - Während mein Kopf noch damit beschäftigt ist, die vier Silben einer
Person zuzuordnen, weiß der Rest meines Körpers bereits Bescheid und
signalisiert Alarmstufe rot. Mein Herz rast. Meine Hände zittern. Meine Knie
werden weich. Und als eine Zehntelsekunde später dann auch mein Verstand wieder
mit von der Partie ist und seine Ergebnisse präsentiert, verstehe ich, woher
die ganze Aufregung kommt. Ach so. Alles klar.
In
Zeitlupentempo drehe ich mich zu der Stimme um. „Hallo Jonas.“
Da steht er:
Meine erste große Liebe. Der Mann, der einst alles von mir besaß – meine
Vergangenheit, meine Gegenwart, meine Zukunft. Und der nach unserer Trennung
all diese Dinge einfach einbehalten hat. In keiner der Umzugskisten mit
Büchern, CDs, Fotos, Geschirr und Kerzenständern, die wir auseinanderdividiert
hatten, war Platz dafür. Und auch jetzt steht Jonas, der Geiselnehmer meiner
Zeitrechnung, mit leeren Händen da.
Unsicher mache
ich einen Schritt auf ihn zu und kneife dabei leicht die Augen zusammen. Ist
das wirklich Jonas? Ich versuche, ihn wieder zu erkennen. Ich meine: richtig wieder zu erkennen. Nicht so, wie es ein Computer tut. Die biometrische
Abgleichung seiner Gesichtszüge mag ihn eindeutig als Jonas identifizieren.
Aber was ist mit den Details, die unter der Oberfläche verborgen liegen, und
die doch viel mehr darüber aussagen, ob man einen Menschen kennt oder nicht?
Etwa Jonas’ Augen, die mich aus einem Sicherheitsabstand von drei Metern
befremdet mustern. Das sind nicht mehr die Augen, die einst bis auf den Grund
meiner Seele geblickt haben. Sie wirken fremd. Neutral. Und dabei doch so
schmerzlich vertraut… Und sein Mund. Dieses unsichere Lächeln, das ihn
umspielt, hat in seiner Reserviertheit rein gar nichts mehr mit dem Mund
gemein, den ich unzählige Male geküsst habe.
Während ich ihn
so anstarre, so scheu und verwirrt und zu keiner Regung fähig, frage ich mich,
wie wiederum ich selbst auf Jonas wirken muss. Ist es am Ende das gleiche Bild
von Fremdheit, das wir beide wie zwei Spiegel zwischen uns hin und her werfen,
ohne das trennende Glas überwinden und einander die Hände reichen zu
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