Liebe 2.0
tickt.
Ob eine gemeinsame Zukunft möglich ist, wenn sie zwar am selben Tag, doch zu
ganz unterschiedlichen Zeitpunkten im Leben der Beteiligten beginnt… Ich muss
an meinen Traum denken und daran, ob der dreißigjährige Martin und ich wohl ein
Paar geworden wären. Hätte ich ihn damals auch nur halb so interessant gefunden
wie heute? Diese Mischung aus Einschüchterung und Geborgenheit, die ich in
Martins Nähe empfinde, ist etwas sehr Eigenes. Seine Reife, seine Erfahrenheit
im Leben und in der Liebe – damit kann er ein Mädchen schon beeindrucken! Zumal
dieses Mädchen bis vor Kurzem nie daran gedacht hätte, solch naive
Schwärmereien handfeste Realität werden zu lassen. Manche Dinge sind nun einmal
in der Traumwelt besser aufgehoben. Nackt ins Büro gehen, zum Beispiel. Oder
das Mathe-Abitur wiederholen. Oder aber im Akkord an irgendwelchen Türen
anklopfen und nirgends ankommen. Niemand will das im echten Leben durchmachen!
Aber Martin? Was ist mit ihm? Ist er/Sind wir realitätstauglich?
Ehe meine
Gedanken auch nur in die Nähe eines Ergebnisses kommen, reißt meine Stimme
schließlich das Kommando an sich. Irgendwer muss ja mal antworten.
„Es stimmt
schon, wir können den klassischen Cliffhanger nicht einfach so im Raum stehen
lassen“, höre ich mich sagen. „Hättest du denn schon eine Ahnung, wie wir den
Plot weiterführen?“
„Kommt ganz
darauf an“, erwidert Martin.
„Worauf?“ frage
ich.
„Darauf, wie
lange du noch in deinem heimischen Bettchen bleibst?“
„Was?!“
„Ich meine, wie
lange du deine Eltern besuchst“, erklärt Martin geduldig. „Kommst du noch im
alten Jahr zurück oder hast du vor, direkt bis Ostern vor Ort zu bleiben?“
„Um Himmels
Willen, nein!“
Oder vielleicht
doch? Worauf will er hinaus? Mein Puls geht merklich schneller.
„Gut. Ich meine: Toll! Ich selber bin über Silvester in Berlin, wo ich mit ein paar
anderen Autoren eine Lesung gebe – mit anschließendem Bankett und Edel-Party
und so. Eigentlich alles eine Spur zu fein für mich. Aber vielleicht kann ich
ja ein bisschen von meiner Person ablenken, indem ich eine schöne Begleitung
dabei habe?“
Mein Herz rast.
Ist es wirklich das, wonach es sich anhört? In der Hauptstadt mit einem tollen
Kerl beim Gala-Diner… Ich??? Das klingt alles so erwachsen… Und unwirklich. –Martin
meinte doch mich? Oder? So oder so, ich sollte etwas sagen!
„Ähhhmmm…“
„Es sei denn
natürlich, du bist schon anderweitig verabredet?“
Okay, es geht
hier tatsächlich um mich.
„Ähmmm – Nein,
nein, ich habe nichts vor!“
Das stimmt
sogar. Ich hasse es, Silvester großartig Pläne zu schmieden, denn zum Schluss
läuft es dann doch immer anders, als man denkt. Es ist einfach falsch, einen
Tag mit tausend Erwartungen zu überfrachten, nur weil es zufällig der letzte
des Jahres ist. Ich finde, damit beraubt man ihn nur der ganzen Möglichkeiten,
die er (wie jeder andere Tag auch) ganz allein von sich aus in sich birgt.
„Also, was ist?
Kommst du mich besuchen?“ Langsam aber sicher wirkt sogar Mr. Selbstbewusst
etwas nervös. Wer hätte gedacht, dass so etwas überhaupt möglich ist? Ein
letztes kurzes Zögern, dann treffe ich für uns beide die Entscheidung.
„Ja. Ja! Sehr
gerne!“
Und so meine ich es auch. Auch wenn mir im gleichen Moment bewusst wird,
dass ich damit einen neuen Erwartungsrekord aufstelle, was den Silvesterabend –
oder sollte ich ehrlicher sagen: die Silvester nacht – betrifft…
Diese Nacht schlafe ich erst einmal
den Schlaf der Gerechten. Die überbordenden Wassermassen, die mich in meinen
Träumen regelmäßig heimsuchen und verschlingen, sind zu einer einzigen großen
Eisschicht erstarrt, und kraftvoll gleite ich über die spiegelglatte Oberfläche
hinweg. Ganz allein. Ohne hinzufallen.
Dreiundvierzig
Der ICE nach Berlin rast durch die
noch immer schneebedeckte Landschaft, und auch die Zeit ‚zwischen den Jahren’,
wie es so schön heißt, verging wie im Fluge. Kaum war ich zu Hause angekommen,
musste ich auch schon wieder alles für meine Abreise vorbereiten. Was im
Klartext nichts anderes hieß, als mit hundert anderen partybesessenen Weibern
durch die Kaufhäuser zu hetzen, um in letzter Sekunde ein angemessenes
Abendkleid aufzutreiben. Das gehört schon unter normalen Umständen nicht gerade
zu meinen Lieblingsbeschäftigungen, aber die pikfeine Einladung ließ
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