Liebe 2.0
Ich bin nicht die
Einzige, der es schlecht geht. Auch Jonas hat Probleme, sich in der geänderten
Gegenwart zurechtzufinden und eine neue Zukunft aufzubauen. Bei unserer
Trennung gab es nun mal keinen Gewinner, nicht einmal auf der moralischen
Seite. Wir haben beide alles verloren. Aber wir haben die Chance, es uns
gegenseitig zurückzugeben. Indem wir endlich akzeptieren, dass sich unsere
Beziehung verändert hat, weil sie sich verändern musste. Und indem wir
erkennen, dass sie uns trotz allem immer noch verbindet. Denn genau so, wie wir
gemeinsam das betrauern, was nicht hat sein sollen, können wir uns gemeinsam an
dem freuen, was alles war.
„Hey, erinnerst
du dich noch an den ersten Adventskalender, den ich dir gebastelt habe?“, frage
ich etwas kurzatmig, während ich mir die Tränen aus den Augenwinkeln wische.
Auch Jonas muss
erst nach Luft schnappen, ehe er antwortet. „Ja klar, der Friedhof! Wie könnte
ich den je vergessen?!“ Er fängt von Neuem an zu lachen. „Die Kiste voller Erde
mit den vierundzwanzig kleinen Kreuzen drauf, und jeden Tag musste ich ein
Tütchen Gummibärchen exhumieren – meine Eltern hätten mir deshalb beinahe den
Umgang mit dir verboten!“
„Zum Glück haben
sie es nicht getan“, kichere ich. „Immerhin habe ich jedes Jahr dafür gesorgt,
dass du deine Mutter zum Muttertag anrufst.“
Jonas macht ein
erschrockenes Gesicht. „Tatsächlich! Das habe ich dieses Jahr prompt vergessen…
Dafür warst du es aber auch‚ die jedes Geschenk meiner Mutter postwendend bei ebay eingestellt hat, kaum dass sie aus der Tür war…“
„Ich bitte
dich!“, rechtfertige ich mich. „Es war doch echt gemein von ihr, mir ein
Anti-Cellulite-Massage-Set zu schenken! Das geht gar nicht!“ Obwohl es schon
acht Jahre her ist, merke ich, dass ich bei dieser Sache ungewohnt nachtragend
bin. „Oder den Krawattenständer. Wo du keine einzige Krawatte besitzt! Und wer
um alles in der Welt braucht einen elektrischen Münzsortierer? Die paar Euro
Haushaltsbudget konnten wir gerade noch selbst zusammenrechnen…“ Ich schüttele
lachend den Kopf. „Außerdem: Sei du mal ganz ruhig! Wer hat denn jeden
Familiensinn mit Füßen getreten, wenn nicht der Erfinder der Ein-Tages-Grippe?
Ich will gar nicht wissen, vor wie vielen Geburtstagen meiner Großmutter du
dich gedrückt hast… Wahrscheinlich wusste sie bei unserer Hochzeitseinladung
gar nicht, wer du bist!“
Mittlerweile
haben wir uns auf die Bank am Brunnen gesetzt und lassen einen Moment nach dem
nächsten wiederaufleben. Wie wir uns beim jährlichen Karnevalsumzug immer Clara
geschnappt und in süße Kostüme gesteckt haben, damit sie als Babyschlumpf und
Fliegenpilz verkleidet möglichst viele Bonbons für uns abstaubte. Oder die
Entrümpelungsaktion im Haus von Jonas’ Eltern, bei der wir darauf achten
mussten, dass wir mit den alten Möbeln, Spiegeln und Lampen nicht versehentlich
Jonas’ Schwester erschlagen, die immer wieder zurück in den Container
geklettert ist, um bereits Aussortiertes zu ‚retten’. „Das kommt wieder in
Mode!“, rief sie dauernd – und stiftete damit ein weiteres Zitat in unserer
Sammlung.
Wir erinnern uns
daran, wie wir nach meinem Magister im Park mit einer Magnumflasche Sekt und
Salzstangen gefeiert haben und uns weder vom Regen noch vom Ordnungsamt
verscheuchen ließen. An unsere erste und einzige Fahrradtour, die gerade einmal
drei Kilometer dauerte, weil ich die Nase voll und Jonas einen Platten hatte.
An das WM-Gucken mit den Nachbarn im gemeinsamen Garten. Die vielen Kinoabende,
Konzerte und Kneipentouren…
Es tut so gut,
das alles wieder teilen zu können! Habe ich noch bis vor Kurzem all diese
Momente als eine regelrechte Bürde empfunden, scheint ihre Schwerkraft mit
einem Mal aufgehoben. Ich merke förmlich, wie der Kloß in meinem Hals immer
kleiner wird, wie das Zerren und Ziepen an meinen Gefühlen nachlässt und
schließlich auch das melancholische Echo verstummt. Nach langer Zeit sind meine
Gedanken wieder frei, denn der Kummer, dieser undankbare Mietnomade, akzeptiert
endlich die Räumungsklage und zieht aus. Und unter all der Verwüstung, die er
hinterlässt, finde ich es schließlich wieder: mein ebenfalls verloren
geglaubtes Selbst. Es ist etwas mitgenommen durch die letzten Monate, aber es
scheint zugleich auch gewachsen unter all dem Leid. Und diese Stärke gibt es
jetzt an mich weiter. Es will mir zeigen, dass meine Zukunft niemals jemand
anderem gehört hat als mir selbst.
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