Liebe 2.0
zu ausgewählten Kapiteln. Die stellen entweder Presse-Rezensenten
oder aber absolute Hardcore-Fans, die Martins Bücher bereits eine Woche nach
Erscheinen dreimal durchgelesen haben und sich darin fast besser auskennen als
er selbst.
„Herr Egger?
Herr Egger!“ Eine Frau pirscht sich an Martin heran und baut sich vor ihm auf.
„Susanne Schröder, guten Abend!“ Sie reicht ihm forsch ihre Rechte, die Martin
zögernd schüttelt. „Ich habe da mal eine Frage: Auf Seite 367, dritter
Abschnitt, behaupten Sie allen Ernstes, dass Simones Großtante eine antike Hummel -Figur
besitzt, die einen kleinen Jungen mit Ohrenschmerzen zeigt.“ Sie lässt ein
keuchendes Lachen erklingen. „Ich bitte Sie! Jedes Kind weiß doch, dass die einzig
infrage kommende 14 Zentimeter große Figur Schmerz laß nach ,
Katalognummer 217, aus den fünfziger Jahren stammt und unter Zahn weh leidet!
Haben Sie sich denn im Vorfeld nicht ausführlicher mit der Materie befasst?“
Herausfordernd guckt
Frau Schröder Martin an, und ich erschauere unter ihrem kalten Blick. Sie ist
nicht sonderlich groß, die Frau Schröder, aber das war Kathy Bates in Misery auch nicht. Und wir wissen doch alle, wie brenzlig damals die Sache für James
Caan wurde.
Martin lächelt
müde, aber bemüht charmant. Vielleicht hat er die gleiche Assoziation wie ich
und will verhindern, dass Frau Schröder gleich eine Axt aus ihrem Handtäschchen
zaubert.
„Das haben Sie
gut beobachtet“, lobt er diplomatisch. „Aber wissen Sie was? Nicht ich habe das gesagt, sondern Jan Stellhorn, der Ich-Erzähler meines Romans. Und der
hat sich an dieser Stelle offensichtlich vertan. Tja, was soll ich sagen: Irren
ist menschlich. Das gilt auch für fiktive Personen.“
Und noch bevor uns Frau Schröder ihren mitgebrachten Sammlerkatalog Die
zauberhafte Welt der M.I. Hummel-Figuren unter die Nase halten und Martin
eine Runde Nachhilfe in Sachen Kitsch geben kann, zieht der mich auch schon
schleunigst in die andere Ecke des Saales.
Die restliche Pause verläuft ohne
nennenswerte Zwischenfälle, und als es zum zweiten Teil klingelt, kehre ich
gespannt zu meinem Sitzplatz zurück. Jetzt betritt Frederick Büsner die Bühne,
ein sympathischer Mittsechziger, den ich in der Pause kurz kennen gelernt habe
– und der meinen ersten Eindruck eines gemütlichen Märchenonkels nun voll und
ganz bestätigt. Es macht einfach Spaß, ihm zuzuhören, wobei ich gar nicht weiß,
was mich so fesselt: Das, was er erzählt, oder einfach nur, wie er es tut. Auch das restliche Publikum zeigt sich begeistert und klatscht mit
einem Enthusiasmus, der Büsners eigener ruhigen Art völlig entgegensteht. Und
dann ist schließlich Martin an der Reihe.
Wie er da auf der Bühne sitzt, umgeben von seinen zahlreichen Notizen und
Büchern, muss ich an unsere erste Begegnung denken. Wie faszinierend er damals
auf mich wirkte: Sein Charme. Sein Sex. Seine abgeklärte Art, über den Dingen
zu stehen. Und irgendwie hat diese Faszination in den letzten Monaten kaum nachgelassen.
Auch wenn ich nicht das Gefühl habe, dass Martin auf mich herabsieht, so merke
ich doch, wie ich selber schon eine Genickstarre bekomme, weil ich so
sehnsüchtig zu ihm und dem, was er darstellt, hinaufblicke. Ich habe größte
Mühe, mir klarzumachen, dass das alles wirklich geschieht: Martin und ich.
Zusammen. Hier. Jetzt. Und, wie es aussieht, auch in Zukunft. Verrückt…
„… und
sogleich fühlte ich, dass es mehr war, was uns beide verband, als ein
fatalistischer Hang zum Aberglauben und unsere manisch-depressive Ader. Es war
vielmehr so, dass sowohl sie als auch ich… “
Martin liest mit ruhiger, samtiger
Stimme, die sich an meinen Körper schmiegt und mich zunehmend einlullt wie ein
Schlaflied aus meiner Kindheit. Ich merke, wie ich zum zweiten Mal an diesem
Abend davon drifte. Die Farben verschwimmen, die Lichter tanzen… und plötzlich befinde
ich mich endgültig im freien Fall durch den Kaninchenbau. Da ist dieses
schwarze Loch, das jede Wahrnehmung einsaugt und mich erst wieder zu
Bewusstsein kommen lässt, als ich auf meinem Hotelzimmer ins Bett falle, eng
umschlungen von starken Männerarmen und völlig berauscht von einem
unwiderstehlichen Duft. Die Vorhänge der bodenlangen Fenster sind offen, doch
die Lichter der Großstadt scheinen kaum herein, so dass die Szenerie
schemenhaft bleibt. Aber es braucht auch kein Licht als Wegweiser, denn ich
weiß genau, wo ich bin, mit wem ich bin, und was ich will. Ich spüre
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