Liebe 2.0
genügend Zeit, das alte Jahr korrekt
abzuschließen – was auch immer das heißen mag. An meiner eigenen knappen Agenda
ändert das wenig, und so bin ich heilfroh, als wir nach einer halben Ewigkeit
endlich am Hotel vorfahren.
Staunend steige
ich aus dem Wagen. Das Viktoria ist sehr vornehm, ohne Zweifel. Wieder
überkommt mich dieses Gefühl, in eine völlig andere Welt einzutauchen, als sei
ich die naive Alice und Martin das listige Kaninchen, das mich in seinen
bodenlosen Bau lockt. (Wobei ich gar nicht abstreiten will, dass zu einer
solchen Verführung immer zwei gehören.) Als ich entschlossen das vornehme Foyer
betrete, wird der Klang meiner Schritte von einem dicken Teppich geschluckt,
während sich das Licht der zahllosen Lüster in noch mehr Spiegeln bricht.
Willkommen im Wunderland!
Nach einem
kurzen Check beim Empfang erhalte ich meine Karte und erfahre, dass sich mein
Zimmer direkt neben dem von Herrn Egger befinde. Erneut bewundere ich Martins
Klasse: Nicht unbedingt zurückhaltend, doch ebenso wenig plump-vertraulich.
Entsprechend diskret ist auch das Klopfen, das ich höre, als ich gerade meine
Tasche abgestellt habe. Noch in voller Reisemontur gehe ich zur Zimmertür,
öffne – und stehe direkt vor James Bond.
„Wow - - -“
„Hallo Schneekönigin!
Schön, dass du da bist…“ Martin tritt an mir vorbei in den kleinen Flur. Auf
den zweiten Blick wirkt er eher wie der zottelige Zwilling von 007, denn die
obersten Knöpfe seines weißen Hemdes sind erneut offen, und auch die
strubbeligen Haare und der Dreitagebart stehen in starkem Kontrast zum
schwarzen Anzug. Aber genau das macht es irgendwie aus. Martin sieht, gelinde
gesagt, umwerfend aus.
„Wow!“
Ich kann mich
nur wiederholen, was Martin ermuntert, trotz der zweiwöchigen Unterbrechung
dort weiterzumachen, wo wir beim letzten Mal stehen geblieben sind. Zielstrebig
greift er nach meinen Händen und zieht mich zu sich heran. „Du hast mir
gefehlt.“
„Nicht, ich
mach’ dich nur schmutzig!“
„Ach, das ist
gar nicht dein Abendkleid?“
Noch bevor ich
auf seinen Spott eingehen kann, küsst Martin mich auch schon mit einer solchen
Leidenschaft, dass ich kurzzeitig sogar meinen eigenen Namen vergesse. Seine
Arme greifen fordernd in meinen Mantel und umschlingen meine Taille, und ich
habe kaum Gelegenheit, zwischendurch Luft zu holen. Trotzdem kann ich nicht
anders, als mich mit aller Macht an Martin zu klammern und seine raue
Zärtlichkeit begierig aufzusaugen.
„Du hast mir
gefehlt“, wiederholt Martin zwischen zwei Küssen.
„Jetzt bin ich
ja da“, antworte ich.
Kaum dass ich
das gesagt habe, merke ich, wie meine innere Anspannung von mir abfällt. Und auch
Martin wird allmählich ruhiger und seine Küsse sanfter, spielerischer. Er
zwickt mich leicht in die Unterlippe, und ich muss unwillkürlich lächeln,
während ich die Augen weiter geschlossen halte und mich auf meinem befriedeten
inneren Ozean treiben lasse, dessen eisbonbonblaue Wellen mich leise hin- und
herschaukeln…
Plötzlich fällt
mein Blick auf den Spiegel an der Garderobe, und ich fahre erschrocken
zusammen. Was ist das? Ich schüttele den Kopf, um meine Gedanken zu sortieren. Irgendetwas
stimmt hier nicht. Wer sind die beiden? Oder, was vielleicht wichtiger ist: Wen
habe ich stattdessen erwartet?
Verwirrt löse
ich mich von Martin und wehre zögernd aber bestimmt seine Hände ab. „Nicht. Du
musst gleich runter, und ich muss mich noch duschen und umziehen.“
„Aber…!“ Mit
einem Mal wirkt Martin wie ein kleiner Junge, und auch das steht ihm nicht
schlecht.
Ich muss lachen.
„Kein Aber. Schließlich bist du nicht zum Spaß hier! – Vorerst. Und außerdem
wolltest du doch mit mir angeben, oder nicht? Na also!“
Ich beobachte
Martin, wie er sich vor dem Zauberspiegel wieder einigermaßen herrichtet,
schnappe mir meine Kulturtasche und gehe in Richtung Bad – nicht ohne dabei meinen
Zimmernachbarn zur Tür zu begleiten, sicher ist sicher. Ein letzter Abschiedskuss.
Dann ist Martin draußen und ich drinnen.
Erschöpft lehne
ich mich gegen die Tür und rutsche an ihr hinunter auf den Boden. Mit einem Mal
fühle ich mich unendlich müde und gleichzeitig doch total überdreht. Als hätte
mir jemand die Haut abgeschält, so dass ich nur noch aus rohem Fleisch bestehe
und sämtliche meiner Nerven blank daliegen. Schon der kleinste Luftzug
verursacht mir unsägliche Schmerzen. Und weil ich mir nicht anders zu helfen
weiß, heule ich schließlich
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