Liebe 2.0
12, Viertel vor 12, fünf vor
12. Über die Lautsprecher schreit irgendwer den Countdown der letzten zehn
Sekunden, die Menge schreit mit. Alle, außer mir. Dann liegen sich alle in den
Armen. Alle, außer mir. Als Schiffbrüchige treibe ich durch das anonyme
Menschenmeer, auf der vergeblichen Suche nach einem schwarzbraun verwuschelten
Haarschopf und eisbonbonblauen Augen. Es ist ein bisschen wie in diesen Finde
Waldo! -Büchern, die Clara so liebt – nur leider ohne Auflösung, zu der ich
vorblättern kann. Immer wieder macht mein Herz einen Satz, wenn ich jemanden
sehe, der annähernd Max’ Statur hat, doch stets ist es wer anders. Da vorne!
Nein, doch nicht… Oder dort? Der große Typ mit der Blondine im Arm, die er
jetzt herzhaft abknutscht? O bitte, bitte, lass das nicht Max sein! –
Natürlich ist das eine schöne Geschichte, die man später seinen Enkelkindern
erzählen kann: Oma und Opa haben sich Silvester am Brandenburger Tor kennen
gelernt und wussten schon damals, dass sie für immer zusammen bleiben wollen…
Aber seien wir mal ehrlich: Das ist auch ganz schön kitschig. Und unoriginell.
Direkt abgegriffen. Abgesehen davon, dass die Story schon deshalb nichts taugt,
weil ich nicht in ihr vorkomme! Vorsichtig laufe ich um das Paar herum und
versuche, das Gesicht des Typen zu erkennen. Und seufze erleichtert auf. Er ist
es nicht!
Auf der Hauptbühne steht mittlerweile David Hasselhoff und schmettert
sein I’ve been looking for Freedom – tja, irgendwie sind wir wohl alle
auf der Suche. Wäre das hier ein Film, so würde die Großaufnahme wahrscheinlich
zeigen, dass Max und seine Kumpel gerade einmal zwei Meter Luftlinie von mir
entfernt The Hoff zujubeln, während ich wie ein fehlgesteuerter Satellit
haarscharf immer wieder an ihnen vorbeischramme. Aber so sehr ich mich auch
bemühe: Ich kann nichts daran ändern.
Halb 1, 1 Uhr,
halb 2, 2 Uhr. Ich bin die Meile bereits zehnmal abgelaufen, doch die Menge
wird und wird nicht weniger. Meine Füße schmerzen, mein Herz auch, und ich
werde von Sekunde zu Sekunde mutloser. Das wird nichts, das wird nichts, das
wird nichts, hämmert es zu den Bässen aus den Boxen in meinem Schädel. Doch
ich will nicht aufgeben, nicht schon wieder. Meine Augen, die abwechselnd immer
wieder auf mein stummes Handy und die laute Menschenmasse starren, sind trocken
und müde, und auch mein Hirn weigert sich, die eingehenden Daten weiterhin in
angemessener Geschwindigkeit zu verarbeiten.
Es ist halb 3, 3 Uhr, halb 4. Immer
länger dauert es, zu unterscheiden, ob jemand ein Mann oder eine Frau ist, ob
groß oder klein, blond oder braunhaarig. Und als ich mal wieder an einem der
Ausgänge angekommen bin, sehe ich ein, dass ich am Ende bin. Ich kann einfach
nicht mehr! – Das habe ich nun davon, dass ich mich eben noch über die
rührselige Enkel-Story lustig gemacht habe. Denn Kitsch hin oder her: Ein Happy
End am Brandenburger Tor wäre doch tausendmal schöner als dieses melodramatische
Scheitern auf ganzer Linie! Ich meine: Dieser Ort ist für Wiedervereinigung
doch wie gemacht! Sollte man meinen… Verdammte Scheiße!
Als ich an den Securitys vorbei nach draußen dränge, gehöre auch ich zu
denjenigen, die das Gelände weinend verlassen – und habe noch nicht mal
jemanden dabei, der sich lallend bei mir entschuldigt. Wie denn auch? Den
Schlamassel habe ich mir selber eingebrockt. Zum Glück sind es nur ein paar
Tränen, denn selbst zum Heulen bin ich zu müde. Und immerhin hat die zusätzliche
Flüssigkeit den Nebeneffekt, dass meine gereizten Bindehäute befeuchtet werden.
Ganz anders verhält es sich dagegen mit diesem nagenden Herzschmerz, der sich
nicht so einfach wegspülen lässt.
Ich stakse durch die Straßen, ohne
Kürbiskutsche und Märchenprinz. Cinderellas Zeit ist abgelaufen – sie hat es
vermasselt, mal wieder. Ich weiß gar nicht genau, wo ich bin, und brauche für
den Rückweg ungefähr dreimal so lang wie für den Hinweg. Kam mir die eine
Häuserreihe gerade noch bekannt vor, so ist die nächste Abzweigung definitiv
falsch. Bin ich an diesem Lebensmittelladen im letzten Jahr auch vorbei
gekommen?
Grübelnd
betrachte ich die Auslage mit türkischen Keksen, als meine Hand brummt – mein
Handy! Rasch klappe ich es auf und starre auf das Display. Eine SMS von Astrid,
bereits vor Stunden abgeschickt, bei dem ganzen Funk-Chaos aber erst jetzt
zugestellt. Sie ist nur kurz: eine Nummer und ein Smiley – anscheinend ist für
Astrid bereits alles gesagt. Na
Weitere Kostenlose Bücher