Liebe 2.0
fasst, was ich selbst so
nie ausgesprochen hätte: nachdenklich, melancholisch, zynisch – positiv ?
Bislang habe ich mir kaum Gedanken darüber gemacht, wie meine Texte außerhalb
meines Kopfes wirken. Geschweige denn, was für eine Botschaft in ihnen verborgen
sein könnte. Faszinierend.
Ich merke, wie
mir jetzt, nach Martins Zuspruch, eine große Last vom Herzen fällt. All die
Zweifel und Ängste, der Frust und das Gefühl des Versagens – auch wenn ich
weiß, dass sie allesamt wiederkommen werden wie verhasste Stammgäste, so hat
ihnen doch für diesen einen Abend der Chef persönlich Hausverbot erteilt.
„Bleibt nur noch
eine letzte Frage offen.“ Martin beugt sich zu mir herüber, als wolle er
verhindern, dass ich auch nur eine Silbe von dem verpasse, was er mir zu sagen
hat. „Teilst du die versteckte Zuversicht deiner Texte? Oder weißt du am Ende gar
nichts von ihrer Existenz?“ Seine Iris brennt sich in meine, doch ich will ihm
nicht den Gefallen tun, auch nur mit der Wimper zu zucken, und bemühe mich um
ein unerschütterliches Pokerface.
„ Ich bin
durchaus nicht zynisch, ich habe nur Erfahrung – das ist so ziemlich dasselbe “,
zitiere ich Oscar Wilde. Und damit ist die Sache für mich erledigt.
Martin, der
weniger Wilde-bewandert ist und die Anspielung nicht versteht, blickt weiterhin
zweifelnd, aber da muss er jetzt durch. Bevor er auf die Idee kommt,
nachzuhaken, stelle ich lieber eine Gegenfrage.
„Wie sieht es
denn bei dir aus? Glaubst du stets an all das, was du schreibst?“
Martin lächelt, hebt anerkennend die Augenbrauen und schiebt sich
demonstrativ eine Gabel Spaghetti in den Mund, um nicht antworten zu müssen.
Danach wischt er sich sorgfältig den Mund ab, nimmt einen Schluck Wasser, setzt
das Glas wieder ab, lehnt sich lässig nach hinten, verschränkt die Hände im
Nacken und sagt: „So, so. Du meinst also, die Mondlandung war nur ein Fake...“
Nachdem auch der Nachtisch verputzt
ist (und ich muss sagen: Martin hat kulinarisch wirklich alle Register
gezogen!), gehen wir wieder hinüber zur Sitzgruppe, ein jeder auf seinen alten
Platz. Es ist so angenehm, mit Martin zu plaudern! Nie bleibt es zu
oberflächlich, nie wird es zu vertraulich. Wir philosophieren munter über das Leben
im Allgemeinen und im Besonderen, während wir Wein trinken und das Feuer im
Kamin beobachten. Erst als nur noch ein Häufchen Asche übrig ist, komme ich auf
die Idee, auf die Uhr zu schauen – und traue meinen Augen nicht: In einer
Viertelstunde fährt die letzte Bahn! Hastig springe ich auf. „Entschuldige,
Martin, aber ich muss jetzt los.“
Martin gleitet
ebenfalls aus seinem Sessel empor, wobei er sein Handy aus der Tasche zieht und
eine Kurzwahl eingibt. „Schade… Vorhersehbar, aber trotzdem bedauerlich…. Aber
du musst nicht meinen, dass ich dich alleine mit der Bahn fahren lasse. – Ja,
hallo? Egger hier. Ja, genau! Ich hätte gerne ein Taxi zu meiner Wohnung.
Genau. Fünf Minuten? Danke!“
Er klappt das
Handy zu und sieht mich an. „Okay, uns bleiben noch fünf Minuten.“ Seine Stimme
nimmt wieder diesen gefährlich-samtigen Ton an, als würde er versuchen, ein
Kätzchen anzulocken. „Fünf Minuten… Wie kann man die sinnvoll nutzen?“
Ich lache. „Ich
denke, bis ich mich wieder vollständig eingepackt habe, ist die Zeit rum.“
Während ich in
den Flur gehe, um meinen Mantel zu holen, bleibt Martin mir dicht auf den
Fersen. Um meine Stiefel hat sich eine nasse Pfütze gebildet, und als ich mich
hinunterbeuge, um sie anzuziehen, spüre ich, wie eine Hand meine ins Gesicht
fallenden Locken behutsam zurückstreicht. Abrupt richte ich mich wieder auf.
Martin steht auf einmal ganz nahe vor mir, so dass unsere Gesichter vielleicht
noch zwanzig Zentimeter voneinander entfernt sind. Ich sehe jede noch so kleine
Falte um seine Augen und seine Mundwinkel, jeden Stoppel seines
Drei-Tage-Barts, und vor allem den verführerisch funkelnden grünen Kern seiner
grauen Augen. Sein Atem geht etwas heftiger, und die leicht behaarte Brust
unter dem geöffneten Hemd hebt und senkt sich auffallend. Er duftet nach
irgendetwas Würzigem, einem Parfum, für das früh ergraute Lebemänner Werbung
machen. Typen wie Martin halt.
Plötzlich beugt
Martin sich vor, nimmt mein Gesicht behutsam in beide Hände, und küsst mich. Es
mag naiv klingen, wenn ich sage, dass ich das nicht erwartet habe. Doch schließlich
war, trotz aller Charme-Offensive, da immer diese Distanz zwischen uns –
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