Liebe 2.0
fünfundsechzig Jahre nach Kriegsende
ein unverbesserlicher Nazi war. Und seine Vorstellung eines perfekten
Weihnachtsfestes war weniger ein Fall für Totallokal als vielmehr für
Den Haag. Weil wir aber den Beitrag für den Nachmittag fest eingeplant hatten
und auf die Schnelle keinen Ersatz finden konnten, war ich gezwungen, mit
zusammengebissenen Zähnen und geballten Fäusten geschlagene drei Stunden lang
Eugens nationalsozialistischer Propaganda von vorweihnachtlichen Plünderungen
und Führeransprachen zu lauschen, um am Ende ganze fünfeinhalb Minuten ohne
antisemitische Hetze herauszubekommen. Als Eugens Stimme schließlich eingerahmt
von Glöckchen und Kindergesang über den Äther dröhnte, wollte ich mich am
liebsten übergeben.
Und heute läuft
es auch nicht viel besser. Gerade steht Thomas vor meinem Schreibtisch und
befiehlt mir allen Ernstes, mich auf den Weg in die Bäckerei am Johannisplatz
zu machen. Deren Inhaber behauptet steif und fest, einer seiner Weckmänner habe
nach dem Backen das Antlitz des Jesuskindleins besessen…
„Aber Thomas“,
wende ich verzweifelt ein, „es heißt doch: Du sollst dir kein Gottesbild machen
– weder hier noch sonst wo. Oder so ähnlich. Das ist Blasphemie! Und das so
kurz vor Weihnachten!“
Aber Thomas
bleibt stur. „Wir haben einen Auftrag“, belehrt er mich. „Wir müssen unsere
Hörer über das Weltgeschehen aufklären. Stell dir vor, die Kollegen, die den
Folterskandal von Abu Ghuraib aufgedeckt haben, hätten deine Einstellung
gehabt!“
Bitte was??? Ungläubig starre ich ihn an.
„Was hat denn Menschenrechtsverletzung mit Volksverblödung zu tun?“,
frage ich irritiert, aber Thomas ist besser zu Fuß als sein hinkender Vergleich
und schon wieder in seinem Büro verschwunden. Zeternd mache ich mich auf den
Weg.
Eine knappe Stunde später bin ich
zurück in der Redaktion und lasse mich genervt auf meinen Schreibtischstuhl
plumpsen.
„Und?“, fragt
Thomas.
„Die Sache ist
gegessen“, antworte ich.
„Was soll das
heißen?“, fragt Thomas weiter.
„Das, was es
heißen soll. Die Sache ist gegessen . Irgendeine Aushilfe hat das heilige
Gebäckstück verkauft. – Da hast du Gottes Zorn!“
Thomas ist
fassungslos. „Und die anderen? Hat irgendwer Fotos gemacht?“
„Du meinst die
Kollegen vom Käseblatt? Nein, nein, keine Sorge!“, kann ich ihn beruhigen. „Das
einzige Bild, das die hätten fotografieren können, war eine verheulte Azubine
und ein tobender Bäcker. – Alles umsonst!“ Damit drehe ich mich weg zu meinem
Computer und schalte ihn ein. Ich hab’s doch gewusst. So ein Schwachsinn aber
auch! Was verlangt Thomas als nächstes von mir? Dass ich mich undercover auf
die Knie sämtlicher Kaufhausweihnachtsmänner setze, um zu recherchieren,
welcher am besten zuhört?
Ich schiele zu
Astrid herüber, die furchtbar beschäftigt tut, obwohl ihr Pressetermin erst auf
heute Nachmittag angesetzt ist. Ihre Wangen sind leicht gerötet, und ihre
Finger hämmern fleißig auf die Tastatur ein. Vielleicht chattet sie ja gerade
mit Max. Ein bisschen Liebesgeflüster am Arbeitsplatz – warum nicht? Wenn es
hilft.
Plötzlich brennt
es in meinen Augen, und ich beginne hektisch zu klimpern. Langsam – sehr
langsam – fährt sich der Desktop hoch, während von der Fensterbank her Mareks
Stimme ertönt und die aktuelle Verkehrslage durchgibt. Ich lange zum Redaktionsradio
rüber und drehe es lauter. Dann schüttele ich unmerklich den Kopf. Soweit ist
es also schon mit mir gekommen: Ich höre freiwillig Totallokal .
Der Computer ist immer noch nicht startklar. Datei für Datei ploppt auf
dem Bildschirm auf, passend im Takt zu den zarten Pianotönen, die nun aus dem alten
schwarzen Kasten erklingen. Ach ja, das schon wieder. Ich weiß weder, wie die
Band heißt, noch kenne ich den Titel des Liedes. Aber seit kurzem läuft der
Song bei uns rauf und runter. Aus Trotz gegenüber meinem Arbeitgeber habe ich
jedoch nie genau hingehört. Bis heute. Bis jetzt.
„Es fällt mir schwer, ohne dich
zu leben
jeden Tag
zu jeder Zeit einfach alles zu geben…“
Der Sänger hat
eine tiefe, dunkle Stimme, die ungewöhnlich ausdrucksstark ist für das heutige
Popbusiness. Und ob ich will oder nicht: Sie kriegt mich. Gebannt höre ich zu.
„Es ist
mein Wunsch
wieder Träume zu erlauben,
ohne Reue nach vorn
in eine Zukunft zu schau’n.
Ich sehe einen Sinn
seitdem du nicht mehr bist,
denn du hast mir gezeigt
wie wertvoll mein Leben
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