Liebe am Don
großen Kelle über den Kopf. Das allein bewies, wie heiß es in seinem Innern war. »Wir müssen beraten, was zu machen ist.« Er sah hinauf zur ›schönen Ecke‹, wo statt des Heiligen Dimitri der streng blickende Lenin hing. Aber auch Lenin war in diesen Minuten kein nützlicher Ratgeber. »Es muß ein Unfall sein … wißt ihr etwas Besseres?«
Evtimia nickte unter Schluchzen.
»Bahren wir sie auf, Dimitri Grigorjewitsch. Bedenke, sie war ein Mensch. Ich werde ihr mein Bett abtreten und sie zurechtmachen für die Totenfeier.«
»Aufbahren?« Kolzow starrte Evtimia entgeistert an. »Erst muß sie am Strand gefunden werden.«
»Es ist eine Sünde, sie zurückzutragen zum Don und einfach wieder ins Wasser zu werfen.«
»Ich will sie ins Schilf legen!« schrie Kolzow. »Fein säuberlich. Ich kann sogar die Fliegen von ihr wegwedeln, wenn du es willst. Aber am Wasser muß man sie finden, nicht aufgebahrt in deinem Bett!«
»Man trägt eine Tote nicht herum wie ein Stück Treibholz. Sie ist jetzt in unserem Haus, und ich mache sie zurecht für Väterchen Ifan.«
»Was?« Kolzow fuhr herum wie gestochen. »Der Pope soll auch noch kommen?«
»Wir haben alle einen Gott«, sagte Evtimia feierlich.
Kolzow verdrehte die Augen, lief wieder zum Herd und schüttete sich eine neue Kelle mit kaltem Wasser über den Schädel. Dann hockte er sich auf die Steinbank neben dem Ofen und klemmte die Hände zwischen seine Knie. Man sah es an seinen Augen, daß sein Gehirn arbeitete. Gegen Evtimias Argumente war schlecht etwas einzuwenden. Er kannte das in den langen Jahrzehnten seiner Ehe mit ihr. Wenn Evtimia sich hinter ihre Religion verkroch, biß alle bolschewistische Weltanschauung auf Granit. Der Kampf mit der Ikonenecke – wir kennen ihn ja – war das beste Beispiel dafür. Letzten Endes siegte Evtimia immer. Sie hatte einen Ausspruch, der selbst den Kommunisten Kolzow zum Nachdenken anregte: »Dimitri, noch lebst du … aber was wird sein, wenn du tot bist? Dann stehst du vor Gott. Willst du Gott von Lenin überzeugen?« Darauf gab es einfach keine Antwort.
»Gut. Bahren wir sie auf«, sagte Kolzow heiser und wischte sich die Augen. »Aber wir müssen uns einig sein und eine gute Geschichte hersagen können. Paßt auf: Wir gehen spazieren, so einen richtigen Abendspaziergang machen wir, hinunter zum Don, am Ufer entlang, um den milden Wind zu genießen, den Wellen nachzuschauen, den Rohrdommeln im Schilf zu lauschen und dem Konzert der Frösche. ›Komm, Freundchen‹, sage ich gerade zu Sascha, ›ich will dir zeigen, wo 1941 die Deutschen eine Pontonbrücke gebaut haben, zehn Tage hat sie gehalten, dann sprengten unsere Partisanen sie in die Luft‹, und ich gehe mit ihm am Fluß entlang, und was sehe ich da? Einen Menschen im Schilf. Im Wasser liegend, mit dem Gesicht nach unten. Nanu, denke ich, so liegt kein normaler Mensch, das ist keine vernünftige Schwimmhaltung, da muß etwas passiert sein. Wir laufen hinunter, waten durch das seichte Wasser, und was finden wir: unsere liebe Jelena Antonowna. Tot wie ein aus dem Nest gefallenes Vögelchen. Ertrunken, weiß Gott wie! Die Lungen voll Wasser, schaukelnd wie Treibholz. Was tun wir? Wir holen sie ans Ufer, legen sie auf den Bauch, pumpen das Wasser aus ihr heraus, versuchen alles, was ein Mensch nur tun kann. Keinen Ton gibt sie mehr von sich. Es ist aus, Genossen. Und nun liegt sie bei Evtimia im Bett, aufgebahrt wie es einem guten Menschen zusteht, und weil man nicht genau weiß, ob sie ein Christenmensch war, haben wir Väterchen Ifan gerufen. Schaden kann's ja nicht. Gott sei mit ihr …«
Kolzow schwieg, erschöpft von seiner Geschichte, und sah alle der Reihe nach an. Selbst die tote Jelena bedachte er mit einem Blick, als wolle er fragen: Einverstanden, du Luder?
»Wir müssen diese Geschichte auswendig lernen«, sagte er dann und putzte sich laut die Nase mit einem groben Tuch. »Man wird sie glauben, und wer sie nicht glaubt, dem schlage ich auf den Kopf.« Er winkte, und es sah sehr resignierend aus. »Und nun mach sie zurecht, Evtimia.«
Die Aufbahrung Jelena Antonownas im Schlafzimmer der Kolzows war wirklich eine feierliche Handlung.
Zunächst wurde Jelena abgetrocknet und von Evtimia frisiert. Dann zog man ihr das Sterbehemd von Großmutter Kolzowa an, aber nur so lange, bis Väterchen Ifan sie ausgesegnet hatte. Dann würde man sie wieder umziehen, denn das gestickte Hemd war zu schade, um in der Erde zu verfaulen.
Bodmar half Evtimia bei
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