Liebe am Don
unbehaglich, er sehnte sich nach seinem Bett, nach gutem Schlaf und gründlichem Vergessen. »Hier haben wir die neuesten Fotos von Njuscha Kolzowa und dem Deutschen Bodmar. Aufgenommen heute nachmittag auf der Wolga.« Rossoskij ließ die Bilder von Mann zu Mann weiterreichen. »Das beweist mir: Bodmar und Njuscha leben versteckt in Wolgograd. Jelena Antonowna ist tot, denn sie hätte sich freiwillig nie von Bodmar getrennt. Major Tumow lebt ebenfalls nicht mehr, denn er hatte die Spur gefunden und mußte für dieses Wissen sterben. Genossen, ich befehle den Einsatz aller Abteilungen. Wie spät ist es?« Einer der Offiziere antwortete.
»Genau 22.39 Uhr, Genosse Oberstleutnant.«
»Tschukow, rufen Sie die Redaktion der Wolgograd-Prawda an. Sie soll alle Maschinen anhalten. Beljanew … Sie bringen sofort die Bilder in die Redaktion. Auf der ersten Seite werden sie gedruckt … sagen Sie, das sei ein Befehl der Zentrale in Moskau.« Er stemmte die Fäuste auf den Tisch und beugte sich etwas vor. Sein Gesicht war gerötet … Jagdleidenschaft eines Jägers, der das Wild vor sich hertreibt. »Morgen abend gibt es keine Rätsel mehr –«
Njuscha und Bodmar schliefen schon längst, aneinandergeschmiegt und weggetragen von der glücklichen Schwäche des Glücks, als die Rotationsmaschinen der Wolgograd-Prawda zu donnern und zu stampfen begannen und ihre Fotos in Hunderttausenden Exemplaren aus den Walzen stießen. Fünfhundert Rubel Belohnung, stand in dicken Buchstaben darüber.
Es war die Nacht, in der für Njuscha und Sascha die Welt enger wurde als ein Grab.
D REIUNDDREISSIGSTES K APITEL
Jeden Morgen brachte Pawel Lukanowitsch Scharikow die Zeitung. Das hatte Großväterchen Volkow noch eingeführt, man kannte es gar nicht anders: Wenn man am frühen Morgen die Tür der Wohnung öffnete, lag draußen die zusammengefaltete Wolgograd-Prawda. Iwan Feodorowitsch bückte sich dann hustend und keuchend, nahm sie vom Boden, warf einen ersten Blick auf die Titelseite, kratzte sich die Haare oder rieb sich die Hinternfalte, schlurfte dann zurück in die Wohnung, beaufsichtigte den brummenden Samowar und las dabei den ersten Artikel, der meistens von den großen Leistungen der Partei auf irgendeinem Gebiet der Kultur oder Arbeit berichtete.
»Ein guter Mensch«, sagte Großväterchen jeden Morgen, wenn er die Zeitung vor der Tür holte. Er meinte damit Scharikow, denn dieser war kein Zeitungsausträger, sondern ein Maschinenschlosser im Werk ›Roter Oktober‹, ein fleißiger Mann, der mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerks sein hundertfünfzigprozentiges Soll erfüllte, so daß schon gar keiner mehr darüber sprach. Außerdem arbeitete Scharikow seit vier Jahren in der Nachtschicht ohne Unterbrechung. »Ich bin ein Nachtmensch«, sagte er immer. »Und es ist ein erhebendes Gefühl, nachmittags, wenn die anderen an den Maschinen stehen, an der Wolga spazierenzugehen. Die Nacht ist sowieso ein verlorener Lebensteil.«
»Wie macht er das bloß?« sinnierte Großväterchen ein paarmal im Familienkreis. »Nachts arbeitet er, bis zum Nachmittag schläft er, dann geht er spazieren oder bestellt sein Gärtchen … aber sechs Kinder hat er auch noch. Wie macht er das bloß?«
Dieser Scharikow also brachte die Zeitung mit, wenn er von der Nachtschicht nach Hause kam, legte sie vor die Tür der Volkows und rollte sich dann zwei Stockwerke höher in sein Bett. Das war um halb sieben … bis sieben Uhr blieb auch die Scharikowa im Bett, ein Zeitplan, mit dem man Großväterchens Verwunderung eigentlich hätte befriedigen können.
Seit dem Tode des alten Volkow holte Bodmar die Zeitung in die Wohnung. Er war jetzt von der Familie der zweite, der aufstand. Arkadij Iwanowitsch zog schon um sechs Uhr morgens los, um als erster am Arbeitsplatz zu sein und seiner Gärtnerbrigade als Vorbild zu dienen. Er war dafür schon dreimal öffentlich belobigt worden und mit glänzenden Augen nach Hause gekommen, als habe ihn Breschnew persönlich an die Brust gedrückt. Die Kinder und die Volkowa krochen erst gegen sieben aus den Betten, wie junge Katzen, denen die Augen aufgehen und die zum erstenmal das Licht des Tages erkennen.
Das alles ist wichtig zu wissen, denn als Bodmar die Zeitung in die Wohnung holte, war er tatsächlich der einzige Mensch im Haus, der über das Neueste informiert war. Scharikow las die Zeitung nie am Morgen … er lieh sie sich am Nachmittag von den Volkows, wenn er hinunter zur Wolga bummelte, sich auf eine Bank
Weitere Kostenlose Bücher