Liebe am Don
Nachschublagern, in den Unterständen, bei den Sanitätern, in den Krankenhäusern am Wolga-Ufer, bei den Beamten der Verwaltung. ›Freunde, ich habe eine Frau und ein Kindchen. Sie sterben mir. Gebt mir ein Mittel gegen das Fieber. Ich flehe euch an, Brüder.‹ Sie gaben es mir, ich ritt zurück durch die Steppe und rettete euch. Als Mamuschka wieder lächelte und zum erstenmal wieder die Hand hob, habe ich geweint. Dann bin ich umgefallen wie ein Klotz und schlief drei Tage. Aber ihr habt gelebt – und du bist groß und schön geworden und meine stolze Njuscha.«
Kolzow schwieg. Die Erinnerung übermannte ihn, Tränen schossen in seine Augen.
Njuscha beugte sich vor, ergriff die Stallaterne und hob sie hoch. Der schwache Schein glitzerte über das brackige Uferwasser.
»Komm, Väterchen«, sagte sie traurig. »Gehen wir nach Hause.« Sie stand auf, streckte Kolzow die Hand entgegen und zog ihn aus dem Sand. Er hakte sich bei ihr unter, nahm die Laterne und leuchtete ihr ins Gesicht.
»Seit hundertfünfzig Jahren leben die Kosaken Kolzow am Don«, sagte er brüchig.
»Ich habe es nicht vergessen, Väterchen.«
»Sie hatten immer ihre Ehre, Töchterchen. Und wer sie anzweifelte, bekam eins mit dem Säbel über den Kopf. Die Kolzows waren stolz darauf.«
»Es wird nie anders sein, Väterchen.« Njuscha nahm ihm die Lampe aus der Hand und blies sie aus. Wie ein Symbol war das … das Licht ging von ihr. »Ich werde Granja im Juni heiraten –«
Erfreut gab Kolzow ihr einen Kuß auf die Backe. Dann gingen sie zurück zum Dorf … zwei kleine Gestalten unter dem Nachthimmel, zwei Schwankende, die sich gegenseitig stützten … so sah es aus im Steppengras und vor den rauschenden Pappeln am Don.
Am nächsten Morgen erschien Granja Nikolajewitsch, alarmiert vom alten Kolzow. Er brachte einen Blumenstrauß mit und einen Korb dunkelroter, ausgesucht großer Erdbeeren.
In Perjekopsskaja schüttelte man die Köpfe.
Das konnte nicht gutgehen, bei allem guten Willen nicht.
Wenn der Wind weht, kann das Gras nicht schlafen, sagen die Tataren. Und sie waren weise Männer.
*
Ohne weiteres Versagen des Moskwitsch-Wagens waren Jelena und Bodmar nach Tula gekommen, hatten von dort die Rollbahn nach Orel genommen und erreichten die Stadt an der Oka am späten Abend.
Orel.
Ein Name, mit Blut geschrieben wie tausend andere Namen in Rußland. Eine Stadt, an der Erinnerungen hingen wie Efeu. Ein Begriff in den Geschichtsbüchern der deutschen und sowjetischen Divisionen. 1941 ein Trümmerhaufen, zerstampft von deutschen Geschützen und Sturzkampfbombern. Am 5. August 1943 bei der großen Kursker Offensive von den Roten Armeen zurückerobert.
Eberhard Bodmar fuhr durch die neu erstandene Stadt bis zur Mündung der kleinen Rybnitza in die Oka. Dort hielt er an einer Uferwiese den Wagen an und zeigte hinunter auf das Flüßchen.
»Hier bleiben wir«, sagte er.
»Hier?« Jelena Antonowna stieg aus dem Wagen und schüttelte den Kopf. »Das ist doch ein Witz.«
»Nein. Wir werden dort unten auf der Wiese unser Zelt aufbauen. Du wirst auf dem Gaskocher Nudeln mit Gulasch kochen, und nach einem Gläschen Wein werden wir in unseren Schlafsack kriechen und schlafen.«
»Das glaube ich nicht.« Jelena trat zurück. Die Fahrt bis hierher war ohne Zwischenfälle verlaufen. Eine lange Strecke hatte sie sogar geschlafen, den Kopf an Bodmars Schulter gelehnt. Sie hatte die Müdigkeit nicht mehr zurückdrängen können; die vergangene Nacht war grauenhaft gewesen, zerrissen von der Aufregung über den Schlaganfall Talinkows und von der brodelnden Wut über die taktlose Bemerkung Dr. Bandurians. Gegen Morgen hatte Jelena sogar haltlos geweint und dann in einer unbeschreiblichen Wildheit ihr Spiegelbild bespuckt.
»Du bist häßlich!« hatte sie ihren nackten Körper angefaucht. »Häßlich! Häßlich! Wenn er dich küßt, dann nur, weil er gerade keine andere hat … Aus Langeweile liebt er dich … so wie man trockenes Brot ißt, um nicht zu verhungern –«
»Warum gerade hier?« fragte Jelena und war entschlossen, auf keinen Fall mit Bodmar in einem Zelt und in einem Schlafsack zu schlafen. »In Orel gibt es das gute ›Intourist‹-Hotel, Puschkinstraße 5. Telefon 7 72 39.«
»Der wandelnde Reiseführer!« Bodmar holte aus dem Kofferraum eine kleine verzinkte Kassette, suchte in seinen Taschen nach einem Schlüssel und schloß sie auf. Aber er öffnete noch nicht den Deckel, sondern trug die Kassette zum Straßenrand. Dort
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