Liebe auf den letzten Blick
setzt sie hinterher, als keine Begeisterungsrufe ertönen. Um die Reihenfolge auszuwürfeln, pfeffert sie einen kleinen roten Würfel auf den Tisch. »Vier!«
Irma hat eine Zwei, Gustl gleichfalls eine Vier, was Amelie mit einem zufriedenen Lächeln registriert. Ich würfle die Sechs und
darf
beginnen. Meine Mitbewohner halten sich die Augen zu, um nicht zu sehen, was ich ihnen gleich vorspielen werde.
Schöner Mist, fluche ich lautlos, als ich lese, was auf dem Würfel steht. So langsam befürchte ich, dass die ganze Würfelnummer irgendwie ausartet. Aber ich will nicht den Spielverderber geben. Also verstecke ich den Würfel unterm Sitzkissen und verkünde: »Ihr könnt wieder gucken.«
Dann erhebe ich mich, nehme zwei Stühle und stelle sie mit etwas Abstand ans Fenster.
»Reise nach Jerusalem«, tippt Irma und beschwert sich über das babyleichte Spiel.
»Falsch.« Ich schüttle den Kopf, ziehe meine Pumps aus, schiebe mein Kleid etwas nach oben und besteige umständlich den Stuhl.
»Fensterputzen!«, kreischt Amelie vergnügt.
»Nein.« Vorsichtig klettere ich wieder runter, dann rauf auf den zweiten Stuhl und erklimme mit äußerster Anstrengung auch noch das glücklicherweise überbreite Fensterbrett. Mit letzter Kraft klammere ich mich an den Fenstergriff.
»Gardinen abnehmen«, tippt Gustl mit besorgter Miene. »Komm lieber wieder runter, das ist doch viel zu gefährlich in unserem Alter.«
»Danke, dass du mich daran erinnerst«, entgegne ich mürrisch beim viel zu hektischen Abstieg, wobei die rückwärtige Naht meines Kleides ein besorgniserregendes Geräusch macht.
Doch nun packt mich der Ehrgeiz. Ich klettere ein weiteres Mal von einem Stuhl auf den anderen, krabble abermals aufs Fensterbrett, steige umständlich ab und röchle am Ende meiner Kräfte: »Sauerstoff!«
Irma springt hoch und stürzt zu mir. »Brauchst du einen Arzt?«
Keuchend schüttle ich den Kopf.
»Ist wirklich alles okay?«, fragt sie besorgt nach.
»Ja, ja, mir fehlt nichts«, antworte ich unwillig, richte mich auf und erkläre wieder mit normaler Stimme: »Das gehört zum Spiel.«
»Ah!«, ruft Amelie. »Du bist eine Fensterputzerin, die einen Herzinfarkt erleidet.«
Mir reißt der Geduldsfaden. »Quatsch! Das war Reinhold Messner bei seinem Alleingang auf den Nanga Parbat.«
»Toll!«, meint Amelie.
Als Nächstes ist Gustl dran. Als wir das Kommando zum Gucken bekommen, erhebt er sich, entfernt sich einige Schritte vom Tisch und breitet die Arme aus, als wolle er jemanden umarmen. In dieser Position beginnt er sich zu drehen.
»Rentnerball!«, rufe ich und muss mir ein Grinsen verkneifen. Gustl sieht einfach zu niedlich aus, wie er steif und ungelenk sein Bäuchlein durch die Küche schiebt.
Er schüttelt den Kopf, wackelt mit Armen und Beinen wie bei einem Twist und dreht sich dann abermals im Kreis.
»Turniertänzer mit Rheuma?«, gackert Irma.
»Nein«, antwortet Gustl keuchend und läuft knallrot an. »Fred Astaire in Rente.«
Amelie mustert ihn verträumt. »Ich war schon ewig nicht mehr tanzen. Sollen wir vielleicht einen Kurs belegen?«
Gustl zuckt zusammen, als wolle sie ihn noch heute zu einem Tanzturnier anmelden.
»So Arm in Arm übers Parkett zu schweben …«, schwärmt sie weiter. »Wie Ginger und Fred.«
»Wer ist als Nächster dran?«, wechselt Gustl schnell das Thema.
Amelie ist an der Reihe. Sie nimmt den Würfel, drückt ihn theatralisch an ihre Brust und wartet, bis wir uns die Hände vor die Augen halten. Ihr spitzer Aufschrei verrät uns, dass sie gleich die große Show abzieht.
Betont langsam erhebt sie sich, zieht ihren Stuhl in die Mitte des Raumes und stellt mit einem graziösen Schwung ihr rechtes Bein darauf.
»Musical«, kreischt Irma. »Die Sally Bowles aus ›Cabaret‹ … Zeig uns deine Strapse, Sally!«
Amelie schüttelt den Kopf, zieht den Rocksaum aber trotzdem etwas höher.
Was hat sie bloß vor? Nervös beobachte ich, wie sie nun um den Stuhl tänzelt.
Gustl dagegen scheint es zu genießen. Er lehnt sich zufrieden lächelnd zurück und betrachtet die flotte Tänzerin ungeniert.
Das Tanzmariechen fühlt sich offensichtlich motiviert und dreht sich lachend schneller. Plötzlich hält sie abrupt inne, beginnt lasziv die Hüften zu kreisen und öffnet dabei einen Knopf am Ausschnitt.
Sie bewegt sich erstaunlich geschmeidig, und ich ahne, dass sie gleich alle Hemmungen und sämtliche Hüllen fallen lassen wird. Ich frage mich, wie viel sie schon getrunken hat. Um
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