Liebe auf den letzten Blick
Schlimmeres zu verhindern, will ich gerade »Striptease«, rufen, als die Klingel schrillt.
Amelie unterbricht ihre künstlerische Darbietung, scheint aber von der Unterbrechung ziemlich angefressen zu sein. Irma und ich springen erleichtert auf.
»Ich dreh uns mal ’nen Jubiläumsjoint«, erklärt Irma. »Wir brauchen dringend Entspannung.«
»Das ist sicher Cengiz, der uns durchs Fenster beobachtet hat«, tippe ich. »Soll ich ihn hereinbitten?«
»Immer rein damit, wenn’s kein Schneider ist«, meint Gustl.
Amelie nickt – Schneider oder nicht, Männer sind ihr grundsätzlich willkommen. Außerdem ist das
die
Gelegenheit, das nächste Fläschchen zu öffnen.
Doch vor der Tür steht nicht der bayrische Türke, sondern die junge Mutter aus dem Dachgeschoss. Ihr aschblondes Haar fällt frisch gewaschen auf die Schultern. Sie trägt ein Blumenkleid und Plateausandalen an den Füßen. Wesentlich erholter als heute Nachmittag wirkt sie allerdings nicht. An der Hand hält sie ihren kleinen Sohn, in der anderen das schlafende Baby in einer Trageschale.
»Guten Abend, Frau Opitz«, begrüßt sie mich. »Ich musste die Kinder jetzt doch mitbringen.«
»Wunderbar, ich freue mich sehr. Treten Sie ein«, fordere ich sie auf.
Luis tippelt an Mamas Hand in den Flur, hält mir stumm eine Riesenbrezel entgegen und schaut mich dabei mit großen Augen an.
»Brot und Salz zur Wohnungseinweihung«, erklärt Sophie das Geschenk.
»Danke schön, Luis.« Der kleine blondgelockte Kerl in der ausgewaschenen Jeans mit dem blau-weißen Ringelpulli sieht so niedlich aus, dass ich ihn am liebsten an die Brust drücken würde. Was ich natürlich nicht tue. Ich streiche ihm auch nicht über die Locken, schließlich sind wir uns erst ein, zwei Mal begegnet. »Magst du Schokoladenkuchen?«
Er reißt sich von Mamas Hand los, saust den langen Flur entlang und quietscht begeistert: »Jaaa!«
Am Flurende angekommen, stößt er mit Irma zusammen, die in diesem Moment mit einem professionell gedrehten Joint aus ihrem Zimmer tritt.
»Hallo, kleiner Mann. Willst du mich besuchen?«, lacht sie vergnügt.
Luis starrt die fremde Frau an und zeigt dann auf das seltsame Gebilde in ihrer Hand. »Was … hast du da?«
Mist! Was soll Frau Stein nur von uns denken? Ich weiß nicht, wohin vor Peinlichkeit, was mir sofort eine heftige Hitzewallung beschert. Mit Blicken versuche ich, Irma zu bedeuten, dass sie gefälligst den Joint verstecken soll.
Aber Irma bringt so eine Situation nicht in Verlegenheit. Sie geht in die Hocke, zeigt auf mich und erklärt Luis ganz ruhig: »Das ist ein klitzekleines Geschenk für Mathilde.«
»Ich … ich auch Geburtstag!«, behauptet Luis.
»Nein, Luis. Das dauert noch ziemlich lange, bis du Geburtstag hast. Erst wenn Weihnachten vorbei ist«, entgegnet seine Mutter geduldig und wendet sich dann an mich. »Sobald das Wort Geschenk fällt, glaubt er, es sei auch sein Geburtstag.«
Enttäuscht schlurft Luis zurück zur Mama, die der Joint nicht weiter zu irritieren scheint. Gut, dass ich ihr bereits von unserer Hippie-Vergangenheit erzählt habe. Uns Alt-68ern traut die junge Generation doch jegliche Dummheiten zu.
Irma drückt mir unbefangen die Tüte in die Hand und fragt den kleinen Kerl. »Magst du Enten, Luis?«
Neugierig schaut er zu ihr auf. »Wo?«
»Dort, in meinem Zimmer«, erklärt Irma und zeigt ans Flurende. »Wenn du willst, kannst du mit ihnen spielen.«
Luis sieht seine Mutter unsicher an. Die nickt ihm lächelnd zu. »Geh nur.«
Irma nimmt Luis an der Hand und trottet mit ihm davon. Ich bitte Frau Stein in die Küche. »Möchten Sie etwas essen?«, frage ich und stocke. Der Anblick von Amelie und Gustl verschlägt mir die Sprache.
Sie sitzt auf seinem Schoß und schreckt ertappt hoch, als wir eintreten. »Oh, Besuch! Guten Abend.«
Gustl strahlt, als er Frau Stein und das Baby erblickt. Mit sanftem Nachdruck schiebt er Amelie zur Seite und begrüßt unsere Nachbarin mit festem Händedruck. Er wünscht sich schon lange Enkelkinder, doch bisher wurde ihm sein Wunsch weder von seinem Sohn noch von seiner Tochter erfüllt.
Während Gustl das Baby anschmachtet, nehme ich einen Silberteller für die Brezel aus dem Küchenschrank und deponiere dort bei der Gelegenheit den Joint.
Sophie nimmt Gustls Einladung zu Steak und Gratiné gernan und erklärt, warum sie die Kinder mitgebracht hat. »Torsten und ich haben … Na ja, er hat das Haus verlassen, ohne zu sagen, wann er zurückkommt. Und die
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