Liebe auf den zweiten Blick (German Edition)
über so viel Aufmerksamkeit und vergaß dabei fast ihre Nervosität.
»Wie heißt das Buch, das Sie mitgebracht haben?«, wollte sie wissen, als Adrian sie sanft auf eine kühle Bank drückte.
»Es heißt ›Der Lockenraub‹ von …«
»Alexander Pope.«
»Stimmt«, meinte er anerkennend. »Mögen Sie seine Bücher?«
Clarissa lächelte und nickte, worauf Adrian ein Stein vom Herzen fiel. »Schön, dann leg ich am besten direkt los.«
6
»Verdammte Hacke. Ich könnte dich sonstwohin schießen, Cousin! Hier seid ihr!«
Clarissa fuhr zusammen, erschrocken über den ärgerlichen Kommentar. Sie erkannte Grevilles Stimme, die eben Adrians sonoren Lesefluss unterbrach. Dann kam undeutlich eine Gestalt ins Bild.
»Na endlich! Grundgütiger, ich such euch seit einer geschlagenen Viertelstunde. Ich muss Lady Clarissa zurückbringen. Es wird höchste Zeit.«
»Ist die Stunde denn schon um?«, fragte das Mädchen enttäuscht. Sie genoss es sichtlich, dass Adrian ihr vorlas.
»Sie durfte bloß eine Stunde weg?« Adrians Miene verdunkelte sich. Er schloss das Buch. »Wieso denn nur so kurz?«
»Hast du etwa gedacht, sie darf länger weg?«, fragte Reginald trocken, als Adrian aufstand, Clarissas Hand fasste und ihr höflich beim Aufstehen half. »Lydia hat eine kleine Spazierfahrt gebilligt und nicht mehr.«
»Schade.« Adrian seufzte.
»Was ist das für ein Buch?«, wollte Reg wissen. »Ist das von Pope?«
»Ja. Ohne Brille kann Clarissa nur ganz schlecht lesen, deshalb hab ich ihr vorgelesen«, erklärte Adrian milde gereizt.
Greville stöhnte leise über die aufmerksame Geste, laut sagte er: »Kommt, wir müssen los. Ich will schleunigst nach Hause und aus diesen albernen Klamotten raus.«
Adrian fasste Clarissas Arm und schob sie sanft weiter.
»Danke«, murmelte sie, während sie Greville folgten. »Das Buch ist toll, und Sie haben eine schöne Stimme. Dass Sie mir vorgelesen haben, hat mir großes Vergnügen gemacht.«
Verlegen über das Kompliment zuckte Adrian mit den Achseln. »Ich hätte mich so gern noch ein bisschen mit Ihnen unterhalten. Ich dachte, wir hätten mehr Zeit.« Er verstummte und half ihr um ein Hindernis – einen umgestürzten Baumstamm, tippte Clarissa –, dann fuhr er fort: »Auf welchen Ball gehen Sie heute Abend?«
»Zu den Devereaux.«
»Schön, dann sehen wir uns dort.«
»Mhm, ja … aber …« Sie schien plötzlich bestürzt. »Das vergessen Sie besser gleich. Lydia hat mir bereits angekündigt, dass sie mich keinen Moment aus den Augen lassen wird, sollten Sie irgendwo auf einem Ball auftauchen. Ich glaube, sie ahnt, dass ich mit Ihnen in Prudhommes Park war. Ich bin leider eine schlechte Lügnerin.«
»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Mir fällt schon etwas ein.«
Bevor Clarissa weiter nachhaken konnte, drückte er sanft ihre Hand und half ihr in den Landauer.
»Bis heute Abend«, flüsterte er ihr verschwörerisch zu.
***
»Lady Crambray. Wie schön, dass Sie kommen konnten.«
Clarissas gelangweilte Miene war mit einem Mal wie weggewischt. Sie spähte angestrengt zu den beiden wandelnden Farbklecksen – einer in Lavendelblau und einer pfirsichfarben –, die sich soeben zu Lydia gesellten. Das Verblüffende daran war, dass es sich bei den beiden Damen nicht um Lady Havard und Lady Achard handelte, obwohl diese Tratschtanten für gewöhnlich die Einzigen waren, die sich bei solchen Partys auf ihre impertinente Stiefmutter stürzten. Entsprechend verdutzt war Clarissa, als sie die Stimmen der Gastgeberin und einer weiteren Lady hörte, die ihre Stiefmutter begrüßten.
Lydia selbst schien nicht minder verblüfft, stellte das Mädchen fest, denn sie stotterte, als stolperte sie dauernd über ihre Zunge. »L–Lady D–Devereaux und L–Lady M–Mowbray. Guten Abend. Ich freue mich, Sie zu sehen. Wir sind sehr, sehr glücklich über diese Einladung, nicht wahr, Clarissa?«
Clarissa nickte zerstreut, denn ihre ungeteilte Aufmerksamkeit galt der Dame in Blau. Das war bestimmt Lady Mowbray. Sie wusste, dass die Gastgeberin eine pfirsichfarbene Robe trug, demnach musste Adrians Mutter der blaue Klecks sein.
»Sie sind sicher die reizende Clarissa.« Lady Mowbray trat näher, und Clarissa vermutete, dass sie gewinnend lächelte. »Ich habe viel von Ihnen gehört, meine Liebe – von meinem Sohn und von meinem Neffen Reginald.«
»Reginald Greville ist Ihr Neffe?«, erkundigte sich Lydia mit geheucheltem Interesse und ging somit geschickt über die
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