Liebe auf den zweiten Blick (German Edition)
aufsammelte, wusste Clarissa Bescheid. Sie ließ den Kopf deprimiert in ihre Hände sinken. Ihre Ersatzbrille war zerbrochen. Und das war alles ihre Schuld.
»Ich bin untröstlich, Mylady«, murmelte Joan zerknirscht. Als Clarissa aufblickte, stand das Mädchen vor ihr am Bettrand und hielt ihr die kaputte Brille hin.
»Dich trifft keine Schuld, Joan.«
»Wenn ich sie besser festgehalten hätte oder …«
Clarissa winkte ab und stand kopfschüttelnd auf. »Es war nicht deine Schuld. Komm, hilf mir beim Ankleiden. Lady Mowbray will mich nachher zur Schneiderin begleiten. Heute ist die letzte Anprobe für mein Brautkleid.«
»Selbstverständlich, Mylady.« Joan legte vorsichtig die Einzelteile der Brille auf das Nachttischchen. Dann begann sie, Clarissa beim Waschen und Ankleiden zu helfen.
Clarissa ließ sie schweigend gewähren, ihre Gedanken kreisten um die Brille, die sie gerade zerbrochen hatte, und das bloß wegen ihrer Ungeschicklichkeit. Es war deprimierend! Sie versuchte, sich moralisch wieder aufzubauen. Eine Brille ließ sich ersetzen. Sie konnte sich in London eine neue machen lassen, das ging vermutlich sogar ganz schnell, trotzdem hätte sie lieber sofort eine gehabt. Zumindest ein Teil von ihr. Der andere Teil war gar nicht besonders versessen darauf, denn sie hatte heimlich Skrupel, wie Adrian reagieren würde, wenn sie eine Brille trug. Lydia hatte ihr das Brilletragen derart madig gemacht, dass sie ganz nervös wurde, wenn sie sich seine Reaktion vorzustellen versuchte. Igitt, Brillenschlange, würde er bestimmt denken und schleunigst das Weite suchen, oder?
Das glaubte sie nun nicht wirklich, aber wenn sie ehrlich mit sich selber war, konnte sie an Brillen auch nichts Attraktives finden. Sie wünschte, sie müsste keine tragen.
»Fertig, Mylady«, murmelte Joan mit gesenktem Kopf.
Ihr Mädchen schien ziemlich geknickt, weil sie sich die Schuld an dem Missgeschick gab, sinnierte Clarissa. So ein gequirlter Quatsch! Eigentlich konnte niemand was dafür. Es war ein blödes Versehen, genau wie die vielen anderen Unfälle, die passiert waren, seit Lydia ihr die Brille weggenommen hatte.
»Soll ich Sie nach unten begleiten, Mylady?«
»Ja bitte, Joan.« Clarissa stand auf und hakte sich bei ihrer Zofe unter.
Der obere Flur war leer. Auf dem Weg nach unten begegneten sie niemandem. Unten, in der Halle, traf sie auf Lydia.
»Da bist du ja.« Ihre Stiefmutter trat zu ihnen. »Ffoulkes sagte mir, das Päckchen mit deiner Brille sei eingetroffen. Wieso trägst du sie nicht?«
Clarissa fühlte, dass sich Joans Arm verkrampfte, und tätschelte ihn begütigend. »Mir ist leider ein Missgeschick passiert. Ich hab sie zerbrochen.«
»Was?«, schnaubte Lydia und funkelte Joan an. »Wieso hast du nicht aufgepasst?«
»Joan trifft keine Schuld«, sagte Clarissa mit Nachdruck. »Ich war so aufgeregt, dass die Brille endlich da war, und hab sie ihr versehentlich aus der Hand geschlagen.«
»Ich hätte sie besser festhalten müssen«, meinte Joan zerknirscht. Clarissa hätte ihr am liebsten eine gescheuert. Ihre Zofe machte alles bloß schlimmer. Sonst wäre das Thema für Lydia bestimmt erledigt gewesen, aber nach diesem Eingeständnis entlud sich deren angestauter Zorn auf dem Haupt der armen Joan.
»Du dummes, dummes Mädchen!«, schnaubte sie. »Du packst auf der Stelle deine Sachen. Ich will dich hier nicht mehr sehen.«
»Ja, Mylady.« Joan versuchte, ihren Arm unter Clarissas wegzuziehen, aber die klemmte ihn gnadenlos an ihren Rippenbogen.
»Joan ist meine Zofe, Lydia. Ich wollte dich eigentlich fragen, ob ich sie nach meiner Hochzeit mitnehmen darf, aber da du sie sowieso vor die Tür setzen willst, erübrigt sich die Frage.« An Joan gerichtet, meinte sie freundlich: »Du kannst ruhig schon mal packen, Joan. Wenn du mit mir kommen willst, musst du das ohnehin.«
»Ich dulde dieses Mädchen keine Sekunde länger in meinem Haus. Sie …«
»Lydia!« John Crambray baute sich in der Tür zum Frühstückszimmer auf, seine Miene grimmig. Zweifellos hatte er das Gespräch mitbekommen und war darüber mächtig verstimmt.
Lydia drehte sich mit erkennbarem Widerstreben zu ihm um. »Ja?«, fragte sie kleinlaut.
»Mir reicht’s«, sagte seine Lordschaft mit Entschiedenheit. »Wenn Clary ihre Zofe mitnehmen möchte, dann kann sie das meinetwegen tun. In dem Fall wird Joan so lange hier wohnen, bis Clarissa auszieht. Dann kann sie meine Tochter in ihr neues Zuhause in Mowbray begleiten. Damit Clary
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