Liebe auf den zweiten Kuss
Peggy hielt sie jetzt sicher beide für Abschaum.
Tim nickte, ernst und ganz Herr seiner selbst, die personifizierte Vernunft in mintgrünem Hemd und dazu passendem Schlips. »Ich bin enttäuscht von dir, Nell. Und ich bin mir sicher, Peggy ist es auch.«
»Eigentlich nicht«, widersprach Peggy und reichte Nell den letzten Eiszapfen. »Ich kündige.«
Sie ging aus dem Zimmer, während Tim ihr nachrief: »Peggy!«
»Du bist ein echter Verlierer«, Nell stand da mit dem letzten Eiszapfen in der Hand. »Und ich werde dir nie wieder aus der Patsche helfen müssen.« Ein letztes Mal holte sie weit aus, direkt aus der Schulter heraus, und schmetterte den letzten Eiszapfen zu Boden – und zuckte zusammen, als eine Scherbe hochsprang und sie an der Wange verletzte. Nun war auch das allerletzte Stück, das ihr Leben mit Tim verbunden hatte, zerstört.
»Du hast mir nie aus der Patsche geholfen«, entgegnete Tim, der sich nun keine Mühe mehr gab, so etwas wie Freundschaft vorzutäuschen. »Ich war derjenige, der die Geschäfte bestimmt hat. Du warst die Sekretärin, nichts weiter.«
»Rede dir das nur selbst weiter ein«, sagte Nell, »aber es wird dir nichts nützen.«
Tim stand hinter seinem ruinierten Schreibtisch und sah sie hasserfüllt an. Schließlich sagte sie: »Gut. Jetzt weißt du, was ich empfinde.«
Dann verließ sie ihr altes Büro und ihr altes Leben, und hatte nicht die geringste Ahnung, was sie als Nächstes tun sollte.
Auf dem Rückweg zu den McKennas versuchte Nell weiter wütend zu bleiben. Ab und an wischte sie sich geistesabwesend das Blut von der Wange, dort wo die Scherbe sie verletzt hatte. Zurück im Büro setzte sie sich an ihren Schreibtisch und fühlte, wie ihr beim Anblick der heruntergekommenen Umgebung die Galle hochstieg. Sie durfte hier nichts verändern, sie durfte von Lynnie nicht das Geld zurückfordern, sie durfte noch nicht einmal den armen Hund in Easton retten. Immer, wenn sie ein wenig Elan zeigte, kam irgendein Mann daher und bremste sie aus. Sie hätte gerne darüber Wut empfunden, doch eigentlich war sie einfach nur müde. Und Peggy hatte ihretwegen auch noch ihren Arbeitsplatz verloren. Sie rief in der Agentur an und bekam Peggy ans Telefon, die im Begriff war zu gehen.
»Es tut mir so Leid«, sagte Nell. »Bitte kündigen Sie nicht meinetwegen.«
»Aber das ist doch gar nicht der Fall«, widersprach Peggy. »Ich möchte hier nicht länger arbeiten. Seitdem Whitney Ihren Job übernommen hat, macht sie mich vollkommen verrückt. Sie weiß über nichts Bescheid, weil sie eben erst anfängt. Sie macht Fehler und wird wütend, wenn ich sie ausbügle, ohne das vorher mit ihr abzusprechen. Aber noch wütender wird sie, wenn ich sie nicht ausbügle. Wie auch immer, ich komme auf keinen grünen Zweig.«
»Das Gefühl kenne ich«, pflichtete ihr Nell bei. »Werden Sie klarkommen?«
»Aber sicher doch«, meinte Peggy. »Nur Tim wird Probleme bekommen.«
»Gut so.« Nachdem Nell aufgelegt hatte, sackte sie auf ihrem Stuhl zusammen. Sie versuchte, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren, doch als Gabe kurz darauf aus seinem Büro kam, starrte sie hoffnungslos ins Leere.
Er sagte etwas, hielt dann inne und musterte sie. »Was ist denn mit Ihrer Wange passiert?«
Nell berührte die Wunde. Mein altes Leben ist mit ihr passiert. »Fliegende Glasscherben.«
»Warten Sie«, bemerkte Gabe mit seiner üblichen gereizten Stimme. Er verschwand im Badezimmer und kehrte mit einem feuchten Papiertuch und dem Erste-Hilfe-Kasten zurück.
»Ist schon gut.« Nell rollte sich ein wenig vom Schreibtisch zurück. »Mir geht es gut.«
»Sie bluten hier im Büro alles voll.« Er hakte seinen Fuß um eine der Stuhlrollen und zog sie zurück. »Nicht bewegen. Das ist alles, was wir an medizinischen Extras bieten können, also nutzen Sie sie.«
Er tupfte die Wunde trocken und desinfizierte sie anschließend. Seine Finger waren überraschend behutsam, während er sie stirnrunzelnd anblickte. Sie saß regungslos, als er mit einem winzigen Klemmpflaster den Schnitt verschloss. Sie bemühte sich, das Gefühl des Umsorgtseins nicht zu genießen, sicher, dass es nach einem flüchtigen Augenblick vorüber sein würde. Sie beobachtete seine Augen, während er arbeitete, sie waren aufmerksam auf sie gerichtet. Als er fertig war, sah er ihr in die Augen und ihre Blicke trafen sich. Sie hörte für einen Augenblick auf zu atmen, mit ihm nah neben sich. Auch er erstarrte. »Fertig«, sagte er dann und
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