Liebe auf südlichen Straßen
wann hätte er ihr diese Geschichten aus der Vergangenheit je erzählt, wenn sie ihn nicht dazu herausgefordert und eine Darstellung und Klärung verlangt hätte. Mit wachsender Beunruhigung verspürte er, daß die Erinnerung in ihm lebendiger war, als er es selber geahnt hatte; daß jede Stunde und jedes Wort in sein Gedächtnis eingegraben war, daß die Vergangenheit nie absank und unzerstörbar war, daß sie ihn geformt hatte und stets ein wesentlicher Teil seiner selber bleiben würde. Und auch Elisabeth mußte es einsehen oder einzusehen versuchen, daß man einander ganz geheiratet hatte, mit der ganzen Zukunft, aber auch mit der ganzen Last der Vergangenheit. Und selbst wenn es eine Möglichkeit gegeben hätte, diese fernen Ereignisse und Bilder aus dem Gedächtnis zu tilgen, er hätte es nie getan. Es wäre ein Verrat an der Liebe zu Gina und ein Verrat an Anna gewesen. Elisabeth hatte keinen Grund, auf Schatten eifersüchtig zu sein, die ihr nichts raubten. Und er versuchte sich mit dem Gedanken zu beruhigen, sie würde von selbst erkennen, daß Treulosigkeit für die Vergangenheit auch Zweifel an seiner Treue für die Zukunft in sich schlösse.
Er spürte selber, daß solche Gedanken nicht mehr als ein gescheiter Trost waren und daß Gefühle und Leidenschaften durch Klugheit und kühle Überlegung nicht gedämpft werden konnten. Die Gefahr für seine Ehe mit Elisabeth aber waren ja wohl auch nicht jene Schattenbilder als vielmehr die sehr reale Existenz Annas und ihres Sohnes, der seinen Namen trug. Aber was konnte er jetzt anderes tun, als alles der Zeit und Elisabeths Herz zu überlassen?
Der Himmel glühte auf. Noch stand die Sonne hinter den Bergen, aber sie schleuderte ihre Lichtspeere schon gegen den Gipfel des Monte Gargnano und vergoldete über Brenzone und Casteletto die harten Konturen des Baldogebirges. Lorenz erhob sich leise und schloß die Jalousie. Das klappernde Geräusch der Bleche hätte Elisabeth wecken müssen, wenn sie schlief. Aber sie rührte sie nicht. Das Wasser in der Karaffe war warm geworden. Lorenz ging bloßfüßig ins Badezimmer, trank frisches Wasser aus der Leitung und nahm zwei von den Schlaftabletten, die er zwischen Zahngläsern und Cremetuben auf dem Glasbrett unter dem Spiegel stehen sah. Und dann fiel er endlich in einen tiefen und traumlosen Schlaf. Als er erwachte, war es kurz vor zehn Uhr. Er hatte fast sechs Stunden lang fest geschlafen, aber er fühlte sich, als er sich aufrichtete, von den Tabletten matt und benommen. Was ihn geweckt hatte, vermochte er nicht zu bestimmen; es war ein Gefühl, als hätte sich im Zimmer irgend etwas verändert, während er schlief. Die Jalousie war noch immer geschlossen. Die Uhr an seinem Handgelenk tickte laut, und die Zeiger schimmerten grünlich durch die Dunkelheit. Nur langsam setzte die Erinnerung an die Ereignisse des vorhergegangenen Tages und der Nacht ein. Er vermochte im ersten Moment nicht einmal zu sagen, ob er Elisabeth alle diese Geschichten erzählt oder ob er nur geträumt hatte, sie ihr erzählt zu haben. Er tastete mit der linken Hand vorsichtig über ihr Kopfkissen — und wurde mit einem hellen Schrecken wach. Das Bett neben ihm war leer, leer und kühl und seit langer Zeit verlassen.
Lorenz sprang mit einem Satz auf, stieß sich das Knie, warf in der Dunkelheit einen Stuhl um, gelangte endlich zum Fenster und zog die Jalousie empor. Lieber Gott! dachte er, nur das nicht! Nur das nicht, daß Elisabeth ihm davongelaufen war und daß er womöglich von seinem Schwiegervater einen Anruf mit der kühlen Frage bekam, weshalb er in Dreiteufelsnamen solch ein Narr gewesen sei, sich diese verrückten Geständnisse nicht für spätere Zeiten aufzuheben oder sie — am besten! — überhaupt zu unterlassen. Er lief zum Schrank und riß die Türen auf. Elisabeths Kleider und Kostüme hingen über der Querstange an den Bügeln, wie sie sie gestern aufgehängt hatte, und die Wäsche lag in den Fächern der Kommode, wie sie eingeordnet worden war. Aber Elisabeth hatte so viele Kleider und Wäschestücke auf die Reise mitgenommen, daß ihm jede Kontrolle darüber fehlte, was sie angezogen und was sie eventuell mitgenommen hatte. Die leeren Koffer waren allerdings vollzählig vorhanden, aber ihre Handtasche fehlte, und es fehlte auch der marokkanische Lederbeutel, den sie gestern bei der Rückkehr vom Berg auf die Kommode gelegt hatte. Der Zweig mit den Limonen lag an seiner Stelle, die Blätter sahen armselig und verwelkt
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