Liebe braucht keinen Ort
mir leid, Liza, aber wir müssen das wirklich jetzt machen, solange du schlapp und schwach bist.«
Da musste sie auch grinsen. »Gut«, sagte sie, »schießen Sie los.«
In der nächsten halben Stunde beantwortete Liza die seltsamste Ansammlung von Fragen, die man ihr je gestellt hatte. Befand sich in dem Zimmer, in dem sie den Anfall gehabt hatte, ein Radio? Oder irgendwo in der Nähe? War sie sich irgendwelcher wichtiger Meldungen bewusst? Wann hatte sie das letzte Mal auf den Nachrichtenbildschirm geschaut? Wann war sie zuletzt online gewesen? Träumte sie oft? Worüber? Was war der letzte Traum, an den sie sich erinnerte? Hatte ihr irgendjemand inletzter Zeit von seinen Träumen erzählt? Ja? Was für Träume waren das? Welche Bilder und Techniken hatte sie bei ihren letzten Patienten benutzt? Worüber hatten sie und Mrs Hart bei ihren Sitzungen geredet? Was war das letzte Hologramm, das sie sich angesehen hatte? Las sie im Augenblick irgendwelche Bücher? Nein? Wann hatte sie das letzte Mal ein Buch gelesen und wovon hatte es gehandelt? Wann war ihre letzte Periode gewesen? Wie verliefen ihre Monatsblutungen gewöhnlich? Hatte sie dabei mit Schwindelgefühlen zu kämpfen? Hatte sie Halluzinationen – sah oder hörte sie Dinge? Hatte sie jemals geglaubt, dass sie Stimmen hörte? Wusste sie, welches Datum heute war? Kannte sie den Namen des Premierministers? Ihren eigenen Namen und ihre Adresse?
Als Dr. Branning endlich fertig war, konnte Liza kaum noch die Augen offen halten. Doch selbst mit geschlossenen Augen wusste sie, dass ihre Beraterin und Dr. Branning zusammenstanden und mit leisen Stimmen über sie redeten. Es war ihr gleichgültig. Sie wollte einfach nur, dass man sie in Ruhe ließe oder dass Rani zurückkäme. Stattdessen schlug sie die Augen auf und sah, wie Dr. Branning auf sie hinunterstarrte.
»Ah, gut.« Er zog einen Stuhl heran. »Was mit dir geschehen ist, ist ziemlich selten, aber nicht abnormal. Meine Spezialität ist die Psychologie der Massen, insbesondere ein Zweig, der Noetik genannt wird. Die Vorstellung, dass Gedanken eine reale Substanz haben und von anderen Menschen wahrgenommen werden können, ist nicht neu, aber der Beweis dafür wurde erst vor ein paar Hundert Jahren erbracht.«
Er hielt inne, um sicher zu sein, dass Lizas Aufmerksamkeit auf ihn konzentriert war. »Damals haben die Forscher entdeckt, dass immer, wenn ein neues Rätsel erschien – ein Kreuzworträtsel oder ein Puzzle oder sonst ein anderes Rätsel –, die erstenMenschen, die es lösten, am längsten dafür brauchten. Doch je öfter das Rätsel gelöst worden war, desto schneller lösten es die anderen, obwohl jede Person völlig allein daran arbeitete. Die Antworten waren einfach da draußen. Gedanken, die in der Luft lagen, die von anderen aufgegriffen und benutzt wurden. Meistens wird diese Aktivität nicht bemerkt, denn sie spielt sich im Unterbewussten ab. Die Leute sind sich gar nicht darüber im Klaren, dass sie diesen Gedankenstrom angezapft haben, selbst wenn die Gedanken sie verstören.«
Dr. Branning legte erneut eine Pause ein, um sicher zu sein, dass Liza ihm folgen konnte. »Etwa um die gleiche Zeit, als die Rätseldaten veröffentlicht wurden, beobachteten Forscher an der Princeton University die Muster des Massenbewusstseins. An den Tagen vor dem 11. September zeigte sich eine schwere, weitverbreitete Störung im Gruppenmuster, und doch sagte niemand das Ereignis voraus. Im Großen und Ganzen weiß das Unterbewusste seine Geheimnisse zu schützen. Das Bewusstsein kann so viel an die Tore hämmern, wie es will, die Straße bleibt versperrt, oft zum Wohl des gesamten Organismus. Es gibt jedoch seltene Fälle, in denen jemand eine vollkommene Harmonie zwischen Unterbewusstsein und Bewusstsein besitzt oder entwickelt. Dann gibt das Unterbewusstsein manchmal Informationen weiter, die es für lebenswichtig hält. Dieses Phänomen findet man bei einem Menschen unter zehn Millionen, es ist wie der einzige Regentropfen, der, durch Zufall oder Schicksal oder eine höhere Macht angetrieben, auf der durstigen Blume und nicht auf den sie umgebenden Felsen landet. Die Übermittlung ist natürlich unvollkommen, denn das Bewusstsein kommuniziert mit Worten, während die Sprache des Unterbewussten aus Bildern und Gefühlen besteht, manchmal sogar aus Elementen, die so flüchtig sind wie eine Berührung oder ein Duft.«
Da schaltete sich Lizas Beraterin wieder ein. »Es tut uns leid, dass
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