Liebe braucht keinen Ort
wir all diese Tests machen und dir Blut abnehmen mussten, aber wir mussten einfach alle anderen Möglichkeiten ausschließen. Das haben wir jetzt, und wir sind uns nun sicher, dass dir heute genau das beschriebene Phänomen geschehen ist. Du musst wissen, exakt zu der Zeit, in der du deinen – äh – Zwischenfall erlebt hast, sind in Dublin, Danzig, Schanghai, Houston und Toronto Schockbomben hochgegangen.«
»Was? Wollen Sie etwa andeuten, dass ich von diesen Bomben
wusste
?«
»Nein. Du hast die Gedanken derjenigen aufgefangen, die dabei waren, und diese Gedanken haben sich bei dir als körperliche Symptome manifestiert.«
Lizas Hand auf dem Schutzgeländer des Bettes fühlte sich eiskalt an. Dieser Sturm stummer Schreie! Der brennend heiße Schmerz im Nacken! Bei der Erkenntnis, dass sie die letzten Gedanken von Hunderten getöteter Menschen aufgefangen hatte, schwappte plötzlich eine Flutwelle der Übelkeit über sie hinweg.
Bleib ruhig
, sagte sie sich.
Konzentriere dich. Denke logisch.
Sie holte tief Luft.
»Gut. Was machen wir jetzt? Wie kann ich das abschalten?«
»Das ist es ja gerade«, antwortete ihre Beraterin. »Es gibt eigentlich keine Methode, wie man diese Zwischenfälle verhindern kann. Tatsächlich werden sie wohl mit jedem Mal wahrscheinlicher. Der Körper lernt aus seinen Erfahrungen.«
»Aber ich kann damit nicht leben«, protestierte Liza. »Es ist zu … zu … groß.« Ihre Stimme, die das Wort »groß« aussprach, klang jämmerlich klein. Keines der beiden Gesichter, die zu ihr herunterschauten, zeigte viel Überraschung über ihre Bestürzung. Plötzlich kam ihr ein Gedanke. »Kommt es daher, dass ich eine Empathin bin?«
»Nicht direkt, nein.«
»Nicht direkt? Was soll das denn heißen?«
»Das Phänomen rührt nicht daher, dass du eine Empathin bist. Deine Ausbildung ist nicht der Grund dafür. Aber die Eigenschaften, die dich zu einer guten Empathin machen, machen dich auch zu einer guten Empfängerin – und einer potenziellen Seherin. Und sowohl deine Ausbildung als auch deine Arbeit machen es wahrscheinlicher, dass dergleichen geschieht.«
Plötzlich wurde Liza wütend. »Warum haben Sie uns während unserer Ausbildung nicht gesagt, dass es diese Möglichkeit gibt? Waren Sie nicht der Meinung, dass wir das Recht hätten, so was zu erfahren?«
»Früher haben wir das gemacht«, antwortete Dr. Branning. »Ich habe das Protokoll dafür selbst entwickelt. Aber wir haben festgestellt, dass es bei vielen Studenten falsche Anfälle ausgelöst hat. Wir haben bisher nie einen echten Fall beobachtet. Anscheinend, weil dieses Phänomen so selten ist.«
Dr. Branning lächelte, als hätte er ihr gerade ein wunderbares Geschenk gemacht.
Er hat gut reden
, dachte sich Liza.
»Und was mache ich jetzt?«, wollte sie wissen.
»Es gibt drei mögliche Wege«, erklärte ihre Beraterin. »Erstens könntest du aufhören, als Empathin zu arbeiten. Das würde nichts garantieren, aber es würde die Wahrscheinlichkeit verringern, dass dergleichen noch einmal geschieht.«
»Oder?«
»Oder du könntest weiter Empathin bleiben und dich auf gelegentliche Vorfälle einstellen. Es gibt keine Medikamente dagegen, aber es gibt Strategien, Techniken zur Abschwächung, die dir helfen können, die körperlichen und emotionalen Schmerzen abzublocken.«
»Und die dritte Möglichkeit?«
»Du könntest es akzeptieren«, sagte Dr. Branning. »Du könntest dieses Talent entwickeln und es unter Kontrolle bekommen, es dir aneignen.«
Liza kreuzte die Arme, eine Geste kindlichen Trotzes. »Warum sollte ich das tun?«
»Weil du der eine Mensch unter zehn Millionen bist. Der seltene Regentropfen.«
»Nein, danke.«
»Aber du könntest unendlich viel Gutes tun, Liza.«
»Frederick!«, zischte Lizas Beraterin. »Sie hat heute schon genug durchgemacht.«
Aber Dr. Branning ließ sich nicht unterbrechen. »Ungeheuer viel Gutes. Verschollene finden. Die letzten Gedanken der Toten am Tatort eines Verbrechens hören. Selbst Attentate wie die heutigen verhindern. Natürlich braucht es dazu sehr viel Training und bedingungsloses Engagement, aber … «
»Frederick!« Die Beraterin warf Dr. Branning wütende Blicke zu. »Bitte geh jetzt.«
Liza wartete, bis sie hören konnte, dass die Tür sich leise geschlossen hatte. »Stimmt das?«, fragte sie dann. »Gibt es Leute wie mich, die diese Bombenattentate heute etwa hätten verhindern können? Hätte
ich
diese Anschläge heute verhindern
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