Liebe braucht keinen Ort
Panik ergriffen losgerannt. Der größte Verbündete der Anarchisten, überlegte sie, war die menschliche Natur.
Sobald sich die anfängliche Angst gelegt hatte, begannen die Leute wieder zurückzukommen. Es waren jedoch andere Menschen als die, die geflohen waren. Diese Leute waren weit genug weg gewesen und konnten daher sicher sein, dass sie nicht betroffen waren. Sie hatten trotzdem ihre Schocksocken übergestreift und waren auf dem Weg zum Zentrum der Explosion. Sie wollten vermutlich helfen, so gut sie eben konnten. Schon bald hatte Liza einige Freiwillige rekrutiert, die ihre Anweisungen befolgten.
David hatte das Zentrum der Explosion nicht finden können, aber man hatte ihm gesagt, dass die ersten Menschen mitten auf der Blackfriars-Brücke zusammengebrochen waren. Mit etwas Glück war das weit genug von ihnen entfernt gewesen und die Schockwelle war nicht tief in die Menschenmenge rings um sie herum eingedrungen. Während er Liza dies erklärte, kamen bereits die ersten Krankenwagen. Die Menschenmenge versperrte ihnen den Weg, sodass sie in einer langen, langsamen Karawane fahren mussten. Trotzdem verspürte Liza eine Welle der Erleichterung, als sie die Autos sah. Sie reichte David einen Marker undwies ihn an, eine Zahl auf die Stirn so vieler Leute zu schreiben wie nur irgend möglich: eine 1 für alle, die am nächsten an dem vermutlichen Zentrum der Explosion gewesen war, eine 3 für die, die sich bestimmt nicht in der Nähe befunden hatten, und eine 2 für alle anderen.
Liza drehte sich um, um zu sehen, wie die Krankenwagen vorankamen. Plötzlich verspürte sie eine Welle der Übelkeit und einen stechenden Kopfschmerz.
Fünf, fünf, fünf
, schrie es in ihrem Kopf, und sie stellte fest, dass sie auf den fünften Krankenwagen in der Reihe starrte. Er sah genauso aus wie all die anderen, und doch wusste sie – sie
wusste
es einfach –, dass
alles an diesem Krankenwagen anders war
. In diesem Wagen war eine Bombe, aber auch die war anders. Es war keine Schockbombe, sondern etwas Altmodischeres. Ein Bild von herunterregnenden Trümmern zuckte ihr durch den Kopf. Sie packte das Kind, das am nächsten bei ihr stand, und schaute zu David. »Lauf!«, schrie sie so laut sie konnte. Sie schaute das Kind an, dem er gerade half, und hoffte, dass er sie verstanden hatte. »Rennt!«
David gelang es, zwei weitere Kinder hochzuheben, und er holte Liza ein. »Nicht zu den Marktständen! – Da drüben hin, hinter die Mauer.«
Sie kauerten sich zusammen, schirmten mit ihren Körpern die Kinder ab. Es verging eine scheinbar endlose Sekunde, ehe der Krankenwagen, in dem sich eine mit Nägeln und Metallstücken gefüllte Bombe befand, in die Luft flog.
Liza bemerkte, dass sie schon einmal die gleiche niederschmetternde Übelkeit und den gleichen stechenden Schmerz hinter den Augen empfunden hatte, und zwar an dem Tag, als sie neben Mr Caldwells Bett gestanden hatte und überall auf der Welt die Schockbomben explodiert waren. Sie erinnerte sich an Ranis erleichterten Blick, als Liza ihr versichert hatte, alles wäre nurZufall gewesen. Und sie erinnerte sich an die Worte ihrer Beraterin über den Preis, den das Sehen von ihr im Privatleben fordern würde. Dieses Mal würde sie niemandem erzählen, was sie gerade empfunden hatte. Nicht einmal David. Schließlich hatten Menschen doch immer wieder Vorahnungen. Das hier musste einfach ein Zufall gewesen sein.
Kapitel 9
Herzlichen Glückwunsch
zum Geburtstag
»Spuck’s aus, McAdams.«
Liza genoss das künstliche Sonnenlicht im Innenhof des Wohnheims. »Ich habe keine Ahnung, wovon du redest, Kapoor«, antwortete sie fröhlich und machte sich nicht die Mühe, das Buch zuzuklappen, das sie auf den Knien hielt.
»Ach du liebe Zeit«, piepste Rani mit hoher Cartoon-Stimme. »Was kann ich bloß meinen?« Rani nahm eine gezierte Pose unschuldiger Verwirrung ein, tippte sich elegant mit dem Zeigefinger ans Kinn und war das perfekte Ebenbild ihrer Urururgroßmutter, die ein berühmter Filmstar in Bollywood gewesen war.
Lachend legte Liza ihr Buch zur Seite.
Rani schnappte sich das schmale Bändchen und hielt es in die Höhe. »
Romeo und Julia
. Was ist das denn – unsere liebe Liza liest zum Vergnügen? Nicht
Weitere Thesen über die diagnostische Empathie
oder
Empathie und das Geist-Körper-Paradox
? Dann ist die Sache wohl ernst.«
Liza streckte die Hand aus. Es war das Buch, das ihr David an jenem Tag in Brighton geschenkt hatte, und sie wollte es wirklich
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