Liebe braucht keinen Ort
Beraterin mit ihren Leistungen zufrieden war, fragte sich Liza manchmal, wer wohl mehr von diesen Sitzungen profitierte, sie oder Mrs Hart. Niemand in Lizas unmittelbarer Umgebung war je zuvor gestorben, mit Ausnahme einer Ururgroßmutter, die sie nicht mehr gesehen hatte, seit sie sechs Monate alt war. Als Mrs Hart sich mit jedem Besuch dem Ende ihres Lebens weiter näherte, sah Liza, dass das Sterben etwas Natürliches und sogar Befreiendes hatte und dass bis zum letzten Ende immer durchschimmerte, wer man war und wie man gelebt hatte.
Eines Tages kam sie bei Mrs Hart an, als diese an einer Staffelei stand und malte.
»Ich habe mal gehört, dass man, wenn man eine Fertigkeit besitzt und bis beinahe zum Ende daran weiterarbeitet, diese Aktivität, wenn man die letzte Grenze überschritten hat, auf der anderen Seite wieder aufnehmen kann«, erklärte sie. »Das hier ist ein Bild von dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin. Ich werde wahrscheinlich nicht mehr lange genug leben, um es fertigzu malen, aber das ist gleichgültig.« Mrs Hart ertappte Liza dabei, wie sie rasch zwinkerte. »Na, na, keine Tränen. Das hatten wir doch abgemacht. Und ich nehme an, die werden da drüben irgendwo eine Lehrlingsstelle für mich finden. Schließlich werde ich mein Leben dafür geben, um dorthin zu gelangen.« Mrs Hart lachte glucksend, hörte aber sofort auf, als sie merkte, dass Liza nicht einstimmte. »Wirklich, meine Liebe, das ist keine so große Sache.«
Aber für Mrs Harts Tochter war es eine große Sache. Sie weinte jedes Mal, wenn sie zu Besuch kam, und schickte viel zu viele E-Mails mit brandaktuellen Meldungen über neu entdeckte Wunderheilmittel. Als Liza beobachtete, wie die Traurigkeit ihrer Tochter über Mrs Hart hinwegwogte, begriff Liza, dass es dazugehörte, jemanden gehen zu lassen, wenn man die Person wirklich liebte. Sie nahm sich vor, dass sie, wenn ihre Eltern einmal an der gleichen Weggabelung angekommen waren, deren Bedürfnisse über ihre eigenen stellen würde.
Mrs Hart hatte endlich alle ihre Pinsel gesäubert. »Nun, meine Liebe – ehe wir anfangen – und ich brauche wirklich etwas mehr Hilfe gegen den Schmerz in der Seite, das ist, als würde man von einem Wolf gebissen –, erzähl mir erst einmal was von deinem Freund. Was gibt’s da Neues? Hast du ihm den Adler schon geschenkt?«
»Nein, noch nicht«, antwortete Liza. »Ich weiß noch immer nicht, was er eigentlich empfindet. Jedenfalls bin ich mir nicht sicher.«
Außer Mrs Hart hatte Liza niemanden, mit dem sie über diese Dinge hätte reden können. Sie hatte Rani immer noch nicht von David erzählt, weil sie genau wusste, was Rani sagen würde. Für Rani waren Jungs wie die vielen Kleider, die man in einem Laden mit in die Umkleidekabine nahm. Wenn einen eines inder Taille kniff oder einem nicht wirklich sehr gut gefiel, dann hingen ja noch Dutzende anderer auf der Stange.
Für Liza war David der Einzige, aber je mehr sie glaubte, dass ihm auch etwas an ihr lag, desto mehr spürte sie, dass es da etwas gab, das ihn immer ein wenig auf Distanz halten würde. Sie hatte ihm alles von ihrer Familie erzählt, aber er hatte nichts über seine gesagt. Er sprach selten über Omura, und die einzigen Details, die sie kannte, hatte sie mit sehr gezielten Fragen herausgefunden. Hatten sie dort Haustiere oder galten Tiere als frivol und unproduktiv? Waren die Farben dort die gleichen wie auf der Erde? Wie trugen die Frauen ihr Haar? Manchmal antwortete er nur vage. Manchmal versuchte er, sie mit einem Witz oder einem Kuss abzulenken. Zweimal war sie sicher gewesen, dass seine Antworten anderen Auskünften widersprachen, die er früher gegeben hatte. Und doch vertraute sie ihm auf einer tieferen Ebene. Aber wie könnte sie das je Rani erklären?
Und jetzt gab es dieses große Problem, über das Liza mit Mrs Hart nicht sprechen wollte, weil es ihr zu peinlich war. Es hätte damit anfangen müssen, dass sie den Augenblick in Brighton beschrieb, als sie vorgeschlagen hatte, die Nacht mit ihm zu verbringen, und er sie abgewiesen hatte. Ihre Wangen glühten noch immer vor Scham, wenn sie an diese Zurückweisung dachte.
Liza fiel auf, dass ihre Verabredungen immer mit einem Treffen an einem öffentlichen Platz begannen – in einem Park, vor einem Theater oder am Victoria Embankment, dem Flussufer an der Themse. Dann hielten sie Händchen, spazierten Arm in Arm und küssten sich wie jedes andere Paar. Es gab Augenblicke,
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