Liebe braucht keinen Ort
mit zu ihm kommen willst! O Gott, was wirst du nur anziehen? Und was machen wir mit deinen Haaren? Du brauchst einen ganzen Wellness-Tag – Maniküre, Pediküre, alles. Vielleicht einen neuen Haarschnitt.«
»Stopp!«, sagte Liza, die sich daran erinnerte, dass Rani sie damals zu der Kiefernzapfenfrisur überredet hatte, mit der ihrKopf wie ein Vulkanausbruch ausgesehen hatte. »Nichts Drastisches! Ich will immer noch wie ich aussehen.«
»Du wirst genauso wie du aussehen«, versprach ihr Rani. »Nur sexier.«
Als Liza zum Treffen mit David aufbrach, fühlte sie sich beinahe glamourös. So hatte sie sich noch nie gefühlt, aber sie war ja auch noch nie zuvor siebzehn geworden. Sie konnte sich kein neues Kleid leisten, aber Rani hatte ihren eigenen übervollen Kleiderschank geplündert und ein enges mitternachtsblaues Seidenkleid gefunden, das wie Wasser über Lizas Körper fiel und knapp über dem Knie ein wenig ausgestellt war. Liza war nicht besonders groß, aber Rani hatte ihr das Haar so hoch auf dem Kopf aufgetürmt, dass sie sich sehr groß fühlte.
Für Anfang November war der Abend recht mild. Seit den Bombenanschlägen waren im West End nicht mehr viele Menschen unterwegs gewesen, doch nun standen die Feiertage vor der Tür, und die Straßen waren wieder belebter. Am Morgen erst hatte der Premierminister verkündet, dass man in der Wohnung des Krankenwagen-Attentäters wichtige Informationen über das Netzwerk der Anarchisten gefunden hatte, und dieser Funken guter Nachrichten war den ganzen Tag in der Luft geschwebt wie ein Champagnerbläschen und hatte sie alle berührt.
Als Liza auf das Theater zuschritt, war sie sich bewusst, dass ihr viele Blicke folgten. Gewöhnlich war sie mit Rani oder anderen Empathinnen unterwegs, wenn sie abends ausging, und wenn Jungs sie anschauten, anlächelten oder ein Gespräch anfangen wollten, richtete sich die Aufmerksamkeit stets auf die gesamte Gruppe. Nun aber war Liza allein, und nicht nur die Jungs schauten ihr nach und lächelten, auch junge Männer in Davids Alter. So fühlt sich das also an, eine junge Frau zu sein? Dannwürde das Leben wirklich großartig werden. Plötzlich kam ihr ein altmodischer Spruch ihres Vaters in den Sinn:
Life is your oyster
. Das Leben liegt wie eine Auster offen vor dir. Sie war sich nicht völlig sicher, ob damit eine Auster gemeint war, die man essen konnte, oder eine Auster mit einer Perle drin. Aber wenn ihr Vater es sagte, meinte er immer, dass das Leben gerade so verlief, wie er es sich wünschte.
Zunächst konnte sie David in der Menge nicht finden und fragte sich, ob sie vielleicht vor dem falschen Theater wartete oder zu früh oder zu spät gekommen war. Doch dann drehte sich der elegante junge Mann in dem hellgrauen Anzug plötzlich um und entpuppte sich als David. Mit seinem dunklen Hemd, der schmalen weißen Krawatte und den dunklen Brauen über den grauen Augen hätte er Hologramm-Werbung für maßgeschneiderte Anzüge machen oder ein Film-Holo des neuesten Herzensbrechers sein können. Als er sie erblickte, trafen sich ihre Augen durch die Menge hindurch und ihr Puls raste.
Er küsste sie, und der Kuss war viel mehr als nur eine Begrüßung. »Du siehst wunderschön aus, Liza. Während ich auf dich zuging, habe ich mich die ganze Zeit gefragt, wieso ich so viel Glück habe, mich hier mit diesem wunderschönen Mädchen zu treffen.« Sie küssten sich wieder. »Bist du bereit?«
»Ich kann es kaum erwarten«, sagte Liza. Sie wusste, dass das klang, als wäre sie ein aufgeregtes Kind, aber als sie sich in die Menschenmenge einfügten, die ins Theater ging, wirkte ihr Spiegelbild in den Fenstern ziemlich erwachsen.
David hatte ihr erst am Vortag verraten, wohin sie gehen würden, und Liza wusste, dass er sich wohl ein Bein ausgerissen und sehr viel Geld hingeblättert hatte, um die Eintrittskarten zu bekommen. Das
Thatcher Theatre
, das den Spitznamen
Lady Meg
trug, war das neueste Theater in London, ein siebenstöckigesGegenstück zum
New Empire
in New York. Das gesamte Theater war die Bühne, und die Sitzreihen konnten getrennt und bewegt werden und durch den Raum fliegen, um die Handlung auf der Bühne zu ermöglichen. Die Wände konnten sich in dreidimensionale Gletscher oder in Ansichten eines Straßenmarkts in Peking verwandeln. Wenn
Titanic!
gespielt wurde, tat sich der Boden auf und man sah darunter den Ozean. Die Sitze verwandelten sich in wasserdichte Kapseln, die kurz mit dem Schiff versanken, um dann
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