Liebe deinen nächsten
sich und holte seine Sachen. Seinen Rucksack hatte er gegen einen Koffer vertauscht, seit er einen Paß hatte. Er öffnete die Tür des Wagens, ging die Stufen langsam hinunter und stellte den Koffer draußen nieder. Dann ging er wieder zurück.
Lilo stand am Tisch. Sie hatte eine Hand aufgestützt, und ihre Augen spiegelten eine so blinde Leere, als sähen sie nichts und sie wäre schon allein. Steiner ging auf sie zu. »Lilo …«
Sie rührte sich und sah ihn an. Ihre Augen veränderten ihren Ausdruck. »Es ist schwer, fortzugehen«, sagte Steiner.
Sie nickte und legte eine Hand um seinen Nacken. »Ich werde allein sein ohne dich.«
»Wohin wirst du gehen?«
»Du wirst sicher sein in Österreich. Auch wenn es deutsch wird.«
»Ja.«
Sie blickte ihn ernst an. Ihre Augen waren sehr tief und glänzend.
»Schade, Lilo«, murmelte Steiner.
»Ja.«
»Du weißt warum?«
»Ich weiß es, und du weißt es auch von mir.«
Sie sahen sich immer noch an. »Sonderbar«, sagte Steiner, »nur ein Stück Zeit und ein Stück Leben, das zwischen uns steht. Alles andere ist da.«
»Alle Zeit, Steiner«, erwiderte Lilo sanf, »alle Zeit und unser ganzes Leben …«
Er nickte. Lilo legte ihre Hände um sein Gesicht und sprach einige russische Worte. Dann gab sie ihm ein Stück Brot und etwas Salz. »Iß es, wenn du fort bist. Es soll dir Brot ohne Kummer in der Fremde geben. Und nun geh.«
Steiner wollte sie küssen, aber er unterließ es, als er sie ansah. »Geh jetzt!« sagte sie leise. »Geh!«
Er ging durch den Wald. Nach einiger Zeit blickte er sich um. Die Budenstadt war in der Nacht versunken, und es war nichts mehr da als die ungeheure, saugende Dunkelheit mit dem Lichtviereck einer fernen, offenen Tür und eine kleine Gestalt, die nicht winkte.
Kern wurde nach vierzehn Tagen dem Bezirksgericht
wieder vorgeführt. Der dicke Mann mit dem Apfelge
sicht blickte ihn bekümmert an. »Ich muß Ihnen etwas Unangenehmes mitteilen, Herr Kern …«
Kern richtete sich gerade auf. Vier Wochen, dachte er, hoffentlich nicht mehr als vier Wochen! So lange kann Beer Ruth zur Not noch im Krankenhaus behalten.
»Der Rekurs für Sie ist vom Obergericht verworfen worden. Sie waren zu lange in der Schweiz. Der Begriff eines Notstandes war nicht mehr gerechtfertigt. Außerdem war da die Sache mit dem Gendarmen. Sie sind zu vierzehn Tagen Gefängnis verurteilt worden.«
»Zu vierzehn Tagen mehr?«
»Nein. Nur vierzehn Tage. Die Untersuchungshaf wird darauf angerechnet.«
Kern tat einen tiefen Atemzug. »Danach käme ich also heute heraus?«
»Ja. Sie haben in Ihrer Erinnerung lediglich statt in Haf im Gefängnis gesessen. Schlimm ist nur, daß Sie jetzt als vorbestraf gelten.«
»Das werde ich aushalten.«
Der Richter sah ihn an. »Es wäre besser, Sie hätten nichts im Strafregister. Aber es war nicht zu machen.«
»Werde ich heute abgeschoben?« fragte Kern.
»Ja. Über Basel.«
»Über Basel? Nach Deutschland?« Kern blickte sich blitzschnell um. Er war bereit, sofort aus dem Fenster zu springen und zu flüchten. Er hatte einige Male davon gehört, daß man Emigranten nach Deutschland abgeschoben hatte. Aber es waren meistens Flüchtlinge gewesen, die gerade aus Deutschland gekommen waren.
Das Fenster war offen, und der Gerichtsraum lag zu ebener Erde. Draußen schien die Sonne. Draußen wiegte der Apfelbaum seine Zweige, und dahinter war eine Hecke, die man überspringen konnte, und dahinter war die Freiheit.
Der Richter schüttelte den Kopf. »Sie werden nach Frankreich gebracht. Nicht nach Deutschland. Basel ist unsere deutsche und unsere französische Grenze.«
»Kann ich denn nicht in Genf über die Grenze geschoben werden?«
»Nein, das geht leider nicht. Basel ist der nächste Platz. Wir haben unsere Anweisungen dafür. Genf ist viel weiter.«
Kern schwieg einen Moment. »Es ist bestimmt, daß ich nach Frankreich abgeschoben werde?« fragte er dann.
»Ganz bestimmt.«
»Wird niemand, der hier ohne Papiere gefaßt wird, nach Deutschland abgeschoben?«
»Niemand, soviel ich weiß. Das kann höchstens in den Grenzstädten einmal passieren. Aber ich habe auch davon kaum etwas gehört.«
»Eine Frau würde doch bestimmt nicht nach Deutschland zurückgeschickt werden?«
»Sicher nicht. Ich würde es jedenfalls niemals tun. Warum wollen Sie das
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