Liebe deinen nächsten
nickte amüsiert. Potzloch streckte ihm noch einmal die Hand hin. »Also Servus! Ich muß rasch zur Schießbude hinüber, nachsehen, ob die das Service gut einpacken.«
»Servus! Ich gehe dafür wieder einmal ins Ringelspiel.«
Potzloch grinste und sauste davon.
Steiner ging zum Wagen hinüber. Das trockene Laub knisterte unter seinen Füßen. Die Nacht stand schweigend und unbarmherzig über dem Walde. Von der Schießbude klang Hämmern herüber. Im halb abgebrochenen Karussell schwankten ein paar Lampen.
Steiner ging, sich von Lilo zu verabschieden. Sie blieb in Wien. Ihre Ausweise und ihre Arbeitserlaubnis galten nur für Österreich. Sie wäre auch nicht mitgegangen, wenn sie gekonnt hätte. Steiner und sie waren Kameraden des Schicksals, zusammengeweht vom Wind der Zeit … sie wußten das beide.
Sie stand im Wohnwagen und deckte den Tisch. Als er eintrat, wandte sie sich um. »Es ist Post für dich gekommen«, sagte sie.
Steiner nahm den Brief und sah auf die Marke. »Aus der Schweiz. Sicher von unserem Kleinen.« Er riß den Umschlag auf und las. »Ruth ist im Krankenhaus«, sagte er dann.
»Was hat sie?« fragte Lilo.
»Lungenentzündung. Aber anscheinend nicht schwer. Sie sind in Murten. Der Kleine gibt abends Feuerzeichen vor dem Hospital. Vielleicht treffe ich sie noch, wenn ich durch die Schweiz komme.«
Steiner steckte den Brief in seine Brusttasche. »Hoffentlich weiß der Kleine, was er machen muß, damit sie wieder zusammenkommen.«
»Er wird es wissen«, sagte Lilo. »Er hat viel gelernt.«
»Ja, trotzdem …«
Steiner wollte Lilo erklären, daß es schwierig für Kern sei, wenn Ruth aus dem Krankenhaus zur Grenze gebracht würde. Aber dann dachte er daran, daß sie beide sich heute abend zum letztenmal sähen – und daß es besser sei, nicht von zwei Menschen zu sprechen, die beieinander bleiben und sich wiedersehen wollten.
Er ging zum Fenster und sah hinaus. Auf dem mit Karbidlampen erleuchteten Platz packten Arbeiter die Schwäne, die Pferde und Giraffen des Karussells in graue Säcke. Die Tiere lagen und standen auf dem Boden herum, als hätte eine Bombe das paradiesische Zusammenleben plötzlich zerstört. In einer der abmontierten Gondeln saßen zwei Arbeiter und tranken Bier aus Flaschen. Sie hatten ihre Jacken und ihre Mützen über das Geweih eines weißen Hirsches gestülpt, der mit weitgestreckten Beinen, wie erstarrt zu ewigem Aufruch, an einer Kiste lehnte.
»Komm«, sagte Lilo hinter ihm, »das Essen ist fertig. Ich habe dir Piroggen gemacht.«
Steiner drehte sich um und nahm sie um die Schulter. »Essen«, sagte er. »Piroggen. Für uns unstete Teufel ist zusammen essen schon so etwas wie eine Heimat, wie?«
»Es gibt noch etwas anderes. Aber das weißt du nicht.« Sie wartete einen Augenblick. »Du weißt es nicht, weil du nicht weinen kannst und nicht verstehst, was das ist… zusammen traurig zu sein.«
»Ja, das kenne ich nicht«, sagte Steiner. »Wir waren nicht of traurig, Lilo.«
»Nein. Du nicht. Du bist wild oder gleichgültig, oder du lachst oder bist das, was ihr tapfer nennt. Es ist es nicht.«
»Was ist es denn, Lilo?«
»Furcht davor, sich dem Gefühl auszuliefern. Furcht vor Tränen. Furcht davor, kein Mann zu sein. In Rußland konnten Männer weinen und doch Männer bleiben und tapfer sein. Du hast dein Herz nie gelöst.«
»Nein«, sagte Steiner.
»Worauf wartest du?«
»Ich weiß es nicht. Ich will es auch nicht wissen.«
Lilo betrachtete ihn aufmerksam. »Komm essen«, sagte sie dann. »Ich werde dir Brot und Salz mitgeben wie in Rußland und dich segnen, ehe du gehst – du Unruhe ohne Fließen, vielleicht wirst du auch darüber lachen.«
»Nein.«
Sie stellte die Schüssel mit den Piroggen auf den Tisch.
»Setz dich zu mir, Lilo.«
Sie schüttelte den Kopf. »Du ißt heute allein. Ich werde dich bedienen und dir geben, was du ißt. Es ist deine letzte Mahlzeit.« Sie blieb stehen und reichte ihm die Piroggen, das Brot, das Fleisch und die Gurken. Sie sah zu, wie er aß, und breitete ihm schweigend den Tee. Sie ging biegsam mit ihren weiten Schritten durch den kleinen Wagen wie ein Panther, der einen zu engen Käfig schon gewohnt ist. Ihre schmalen, bronzenen Hände schnitten ihm das Fleisch, ihr Gesicht hatte einen gesammelten, undeutbaren Ausdruck, und sie erschien Steiner plötzlich wie eine biblische Gestalt.
Er erhob
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