Liebe deinen nächsten
beim zweiten erhielt er ein Butterbrot; beim dritten fünf Franken. Er arbeitete weiter und hatte Glück – bis mittags hatte er siebzehn Franken verdient. Er versuchte vor allem sein letztes Parfüm und sein Toilettewasser loszuwerden, für den Fall, daß er François noch einmal begegnen würde. Das war schwer bei den Pastoren – aber es gelang bei den andern Adressen. Nachmittags hatte er achtundzwanzig Franken verdient. Er ging in die katholische Kirche. Sie war offen, und sie war der sicherste Platz, sich auszuruhen. Er hatte zwei Nächte nicht geschlafen.
Die Kirche war halbdunkel und leer. Sie roch nach Weihrauch und Kerzen. Kern setzte sich in eine Bank und schrieb einen Brief an Doktor Beer. Er legte einen Brief für Ruth und Geld für sie hinein. Dann klebte er ihn zu und steckte ihn in die Tasche. Er fühlte sich sehr müde. Langsam rutschte er auf die Kniebank und legte den Kopf auf das Betpult. Er wollte nur einen Augenblick ausruhen; aber er schlief ein.
Als er erwachte, wußte er überhaupt nicht, wo er war. Er blinzelte in den matten, roten Schein des Ewigen Lichtes und fand sich allmählich zurecht. Als er Schritte hörte, wurde er sofort völlig wach.
Ein Geistlicher in schwarzer Priestertracht kam langsam den Mittelgang herunter. Er blieb bei Kern stehen und sah ihn an. Kern faltete zur Vorsicht die Hände.
»Ich wollte Sie nicht stören«, sagte der Geistliche.
»Ich wollte gerade gehen«, erwiderte Kern.
»Ich sah Sie von der Sakristei aus. Sie sind schon zwei Stunden hier. Haben Sie für etwas Besonderes gebetet?«
»O ja«, sagte Kern, etwas überrascht, aber schnell gefaßt.
»Sie sind nicht von hier?« Der Geistliche blickte auf Kerns Koffer.
»Nein.« Kern sah ihn an. Der Priester machte einen vertrauenerweckenden Eindruck. »Ich bin Emigrant. Ich muß heute nacht über die Grenze. In dem Koffer dort habe ich Sachen, die ich verkaufe.«
Er hatte nachmittags noch eine Flasche Toilettewasser übrigbehalten und faßte plötzlich die irrsinnige Idee, sie dem Geistlichen in der Kirche zu verkaufen. Es war unwahrscheinlich; aber er war an unwahrscheinliche Dinge gewöhnt. »Toilettewasser«, sagte er. »Sehr gutes. Und sehr billig. Ich verkaufe es gerade aus.«
Er wollte seinen Koffer öffnen.
Der Priester wehrte ab. »Lassen Sie nur. Ich glaube Ihnen. Wir wollen die Wechsler im Tempel nicht nachahmen. Ich freue mich, daß Sie so lange gebetet haben. Kommen Sie mit in die Sakristei. Wir haben einen kleinen Fond für bedürfige Gläubige.
Kern bekam zehn Franken. Er war etwas beschämt, aber nicht lange. Es war ein Stück französische Eisenbahn für ihn und Ruth. Die Pechsträhne scheint zu Ende zu sein, dachte er. Er ging in die Kirche zurück und betete nun tatsächlich. Er wußte nicht genau zu wem – er selbst war protestantisch, sein Vater war Jude, und er kniete in einer katholischen Kirche – aber er fand, daß in Zeiten wie diesen wahrscheinlich auch im Himmel ein ziemliches Durcheinander sein mußte, und er nahm an, daß sein Gebet schon den richtigen Weg finden würde.
Abends fuhr er mit der Eisenbahn nach Genf. Er hatte plötzlich das Gefühl, Ruth könne schon früher aus dem Hospital entlassen werden. Er kam morgens an, deponierte seinen Koffer am Bahn hof und ging zur Polizei. Dem Beamten erklärte er, gerade aus Frankreich herübergeschoben worden zu sein. Da er seinen Ausweisungsbefehl aus der Schweiz bei sich hatte, der nur ein paar Tage alt war, glaubte man ihm; man behielt ihn tagsüber da und schob ihn nachts in der Richtung Cologny über die Grenze.
Er meldete sich sofort beim französischen Zollamt. »Gehen Sie ’rein«, sagte ein schläfriger Beamter. »Es ist schon jemand anders da. Wir schicken euch gegen vier Uhr zurück.«
Kern ging in die Zollbude. »Vogt!« sagte er erstaunt. »Wie kommen Sie denn hierher?«
Vogt hob die Schultern. »Ich belagere wieder einmal die Schweizer Grenze.«
»Seit damals? Seit Sie zum Bahnhof in Luzern gebracht wurden?«
»Seit damals.«
Vogt sah schlecht aus. Er war mager, und seine Haut war wie graues Papier. »Ich habe Pech«, sagte er. »Es gelingt mir nicht, ins Gefängnis zu kommen. Dabei sind die Nächte schon so kalt, daß ich sie nicht mehr vertrage.«
Kern setzte sich zu ihm. »Ich war im Gefängnis«, sagte er. »Und ich bin froh, daß ich wieder draußen bin. So ist das Leben!«
Ein Gendarm brachte ihnen etwas Brot
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