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Liebe deinen nächsten

Liebe deinen nächsten

Titel: Liebe deinen nächsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Maria Remarque
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und Rotwein. Sie aßen und schliefen sofort auf der Bank ein. Um vier Uhr morgens wurden sie geweckt und zur Grenze gebracht. Es war noch völlig dunkel. Die bereifen Felder schimmerten bleich am Wegrande.
      Vogt zitterte vor Kälte. Kern zog seinen Sweater aus. »Hier, ziehen Sie das an. Mir ist nicht kalt.«
      »Wirklich nicht?«
      »Nein.«
      »Sie sind jung«, sagte Vogt, »das ist es.« Er streife den Sweater über. »Nur für die paar Stunden, bis die Sonne kommt.«
      Kurz vor Genf verabschiedeten sie sich. Vogt wollte versuchen, über Lausanne tiefer in die Schweiz zu kommen. Solange er in der Nähe der Grenze war, schickte man ihn einfach zurück, und er konnte nicht auf ein Gefängnis rechnen.
      »Behalten Sie den Sweater«, sagte Kern.
      »Ausgeschlossen! Das ist doch ein Kapital!«
      »Ich habe noch einen. Geschenk eines Gefängnisgeistlichen in Wien. In der Gepäckaufewahrung in Genf.«
      »Ist das wahr?«
      »Natürlich. Es ist ein blauer Sweater mit einem roten Rand. Glauben Sie es nun?«
      Vogt lächelte. Er zog ein schmales Buch aus der Tasche. »Nehmen Sie das dafür.«
      Es waren die Gedichte Hölderlins. »Das können Sie doch noch viel weniger entbehren«, sagte Kern.
      »Doch. Ich kann die meisten auswendig.«
      Kern ging nach Genf hinein. Er schlief zwei Stunden in der Kirche und stand um zwölf Uhr an der Hauptpost. Er wußte, daß Ruth noch nicht kommen konnte, aber er wartete trotzdem bis zwei Uhr. Dann zog er die Adressenliste Binders zu Rate. Er hatte wieder Glück. Bis abends hatte er siebzehn Franken verdient, und damit ging er zur Polizei.
      Es war Sonnabend. Die Nacht war unruhig. Schon um elf Uhr wurden zwei völlig Betrunkene eingeliefert. Sie kotzten das Lokal an und begannen dann zu singen. Gegen ein Uhr waren sie zu fünf. Um zwei Uhr brachte man Vogt.
      »Es ist wie verhext«, sagte er melancholisch. »Immerhin, wir sind wenigstens zu zweit.«
      Eine Stunde später wurden sie abgeholt. Die Nacht war kalt. Die Sterne flimmerten und waren sehr fern. Der halbe Mond war klar wie geschmolzenes Metall.
      Der Gendarm blieb stehen. »Sie biegen hier rechts ab, dann …«
      »Ich weiß«, unterbrach Kern ihn. »Ich kenne den Weg.«
      »Dann alles Gute.«
      Sie gingen weiter, über den schmalen Streifen Niemandsland zwischen Grenze und Grenze.

    WIDER ERWARTEN SCHICKTE man sie nicht in derselben Nacht zurück. Man brachte sie auf die Präfektur und nahm ein Protokoll mit ihnen auf. Dann gab man ihnen zu essen. In der folgenden Nacht schob man sie wieder ab.
      Es war windig und trübe geworden. Vogt war sehr müde. Er sprach kaum und machte einen fast verzweifelten Eindruck. Als sie ein Stück weit über die Grenze waren, rasteten sie in einem Heustadel. Vogt schlief bis zum Morgen wie ein Toter.
      Er wachte auf, als die Sonne aufging. Er rührte sich nicht; er öffnete nur die Augen. Es hatte etwas sonderbar Erschütterndes für Kern, diese schmale regungslose Gestalt unter dem dünnen Mantel, dieses bißchen Mensch mit den groß geöffneten, stillen Augen zu sehen.
      Sie lagen auf einem sanf abfallenden Hang, von dem man einen Blick auf die morgendliche Stadt und auf den See hatte. Der Rauch der Schornsteine stieg von den Häusern in die frische Luf und erweckte das Gefühl von Wärme, Geborgenheit, Frühstück und Betten. Der See blinkte in einer weichen Unruhe herauf. Vogt betrachtete schweigend, wie die leichten, wehenden Nebel von der Sonne eingeatmet wurden und verschwanden, und wie das weiße Massiv des Montblanc langsam hinter den Wolkenfetzen hervortrat und zu schimmern begann wie die hellen Mauern eines hochgebauten, himmlischen Jerusalem.
      Gegen neun Uhr brachen sie auf. Sie kamen nach Genf und nahmen den Weg am See entlang. Nach einiger Zeit blieb Vogt stehen. »Sehen Sie sich das einmal an!« sagte er.
      »Was?«
      Vogt zeigte auf ein palastartiges Gebäude, das in einem großen Park lag. Das mächtige Haus leuchtete in der Sonne wie ein Schloß der Sicherheit und des wohlgefügten Lebens. Der herrliche Park funkelte im Gold und Rot des Herbstlaubes. Lange Reihen von Automobilen standen gestaffelt in dem breit angelegten Einfahrtshof, und Scharen vergnügter Menschen gingen aus und ein.
      »Wunderbar«, sagte Kern. »Sieht aus, als ob der Kaiser der Schweiz hier wohnte.«
      »Wissen Sie nicht, was das ist?«
      Kern schüttelte den Kopf.
      »Das ist der Palast des Völkerbundes«, sagte

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