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Liebe deinen nächsten

Liebe deinen nächsten

Titel: Liebe deinen nächsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Maria Remarque
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Er fühlte sich sonderbar ausgelöscht. Der Lärm der Straße sickerte von weit her in seine dumpfe, gestaltlose Traurigkeit, und automatisch setzte er Fuß vor Fuß.
      Es dauerte eine Weile, ehe er den blauen Mantel erkannte. Er blieb stehen. Irgendein blauer Mantel, dachte er, einer von den hundert blauen Mänteln, die mich in dieser Woche verrückt gemacht haben! Er sah weg und wieder hin. Kassenboten und eine dicke Frau, die mit Paketen beladen war, versperrten ihm den Blick. Er hielt den Atem an. Er spürte, daß er zitterte. Der blaue Mantel tanzte vor seinen Augen zwischen roten Gesichtern, Hüten, Fahrrädern, Paketen, Menschen, die sich unablässig dazwischenschoben. Er ging vorsichtig weiter, als schritte er über ein Seil und fürchtete jede Sekunde abzustürzen. Selbst als Ruth sich umdrehte und er ihr Gesicht sah, glaubte er noch an eine entsetzliche Ähnlichkeit und eine Täuschung der Phantasie. Erst als ihr Gesicht sich veränderte, stürzte er vorwärts, ihr entgegen.
      »Ruth! Du bist da! Du bist da! Du wartest und ich bin nicht da!«
      Er hielt sie fest in seinen Armen und fühlte, wie sie ihn hielt. Sie klammerten sich aneinander, als stünden sie auf einer schmalen Bergeskuppe und der Sturm reiße an ihnen, um sie herunterzu wehen. Sie standen mitten in der Tür der Hauptpost von Genf, zur Zeit des größten Verkehrs, und Leute drängten an ihnen vorüber, stießen sie an, drehten sich erstaunt um und lachten – sie merkten es nicht. Sie waren allein. Erst als Kern in seinem Blickfeld eine Uniform aufauchen sah, wurde er sofort wach. Er ließ Ruth los.
      »Komm rasch!« flüsterte er. »In die Post! Ehe etwas passiert!«
      Sie tauchten eilig im Gedränge unter. »Komm hierher!«
      Sie stellten sich an das Ende einer Reihe von Leuten, die vor einem Briefmarkenschalter warteten. »Wann bist du angekommen?« fragte Kern. Die Hauptpost in Genf war ihm noch nie so hell erschienen.
      »Heute morgen.«
      »Haben sie dich erst nach Basel gebracht? Oder direkt hierher?«
      »Nein. Man hat mir in Murten eine Aufenthaltserlaubnis für drei Tage gegeben. Da bin ich gleich hierhergefahren.«
      »Wunderbar! Eine Aufenthaltserlaubnis sogar! Da brauchst du überhaupt keine Angst zu haben! Ich sah dich schon allein an der Grenze. Du bist blaß und schmal geworden, Ruth!«
      »Ich bin aber wieder ganz gesund. Sehe ich häßlicher aus?«
      »Nein, viel schöner! Du bist jedesmal schöner, wenn ich dich wiedersehe! Hast du Hunger?«
      »Ja«, sagte Ruth. »Hunger nach allem; dich zu sehen, über Straßen zu gehen, nach Luf und Sprechen.«
      »Dann wollen wir gleich essen gehen. Ich weiß ein kleines Restaurant. Da gibt es frische Fische aus dem See. Wie in Luzern.« Kern strahlte. »Die Schweiz hat so viele Seen. Wo ist dein Gepäck?«
      »Am Bahnhof natürlich! Ich bin doch ein alter, gelernter Vagabund.«
      »Ja! Ich bin stolz auf dich! Ruth, jetzt kommt deine erste illegale Grenze. Das ist ungefähr wie das Abitur. Hast du Angst?«
      »Überhaupt nicht.«
      »Das brauchst du auch nicht. Diese Grenze kenne ich wie meine Briefasche. Ich weiß alles. Ich habe sogar schon Fahrkarten. In Frankreich gekauf, vorgestern. Alles ist vorbereitet. Ich kenne den Bahnhof ganz genau. Wir bleiben in einer kleinen Kneipe, die sicher ist, und gehen erst im letzten Moment direkt zum Zug.«
      »Du hast schon Fahrkarten? Wo hast du denn das Geld dazu her? Du hast mir doch so viel geschickt?«
      »Ich habe in meiner Verzweiflung die Schweizer Geistlichkeit ausgeplündert. Ich bin wie ein Gangster durch Basel und Genf gebraust. Für ein halbes Jahr darf ich mich jetzt hier nicht mehr sehen lassen.«
      Ruth lachte. »Ich bringe auch etwas Geld mit. Doktor Beer hat es von einer Flüchtlingshilfe für mich geholt.«
      Sie standen dicht nebeneinander und rückten langsam in der Kette der Wartenden vor. Kern hielt Ruths herabhängende Hand fest in der seinen. Sie sprachen leise, mit unterdrückten Stimmen, und bemühten sich, möglichst gleichmütig und unbeteiligt auszusehen.
      »Wir scheinen ein unheimliches Glück zu haben«, sagte Kern. »Du kommst nicht nur wieder – mit einer Aufenthaltsgenehmigung – du bringst sogar noch Geld mit! Weshalb hast du mir denn nicht geschrieben. Konntest du es nicht?«
      »Ich hatte Angst! Ich dachte, man könnte dich fassen, wenn du die Briefe abholtest. Beer hat mir die Sache mit Ammers erzählt. Er glaubte auch, es wäre

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