Liebe deinen nächsten
Sie mir wenigstens sagen, wo ich ein paar Tage unangemeldet wohnen kann?« fragte Kern.
»Leider nicht. Ich kann es nicht und darf es auch nicht. Die Vorschrifen sind sehr streng, und wir haben uns genau daran zu halten. Sie müssen zur Polizei gehen und um eine Aufenthaltserlaubnis ersuchen.«
»Na«, sagte Kern, »darin habe ich schon eine gewisse Erfahrung.«
Der junge Mann sah ihn an. »Warten Sie doch bitte noch einen Augenblick.« Er ging in ein Büro im Hintergrunde und kam bald darauf wieder. »Wir können Ihnen ausnahmsweise mit zwanzig Franken helfen. Mehr können wir leider nicht für Sie tun.«
»Danke vielmals! So viel habe ich gar nicht erwartet!«
Kern faltete den Schein sehr sorgfältig zusammen und steckte ihn in seine Briefasche. Es war das einzige Schweizer Geld, das er hatte.
Auf der Straße blieb er stehen. Er wußte nicht, wohin er gehen sollte.
»Nun, Herr Kern«, sagte da jemand hinter ihm etwas spöttisch.
Kern fuhr herum. Ein junger, ziemlich elegant angezogener Mensch, ungefähr in seinem Alter, stand hinter ihm. Er lächelte. »Erschrecken Sie nicht! Ich war auch eben dort oben.« Er wies auf die Tür der Kultusgemeinde. »Sie sind das erstemal in Zürich, wie?«
Kern sah ihn eine Sekunde mißtrauisch an. »Ja«, sagte er dann. »Ich bin sogar das erstemal in der Schweiz.«
»Das habe ich mir gedacht. Ihre Geschichte war so. Etwas ungeschickt – verzeihen Sie. Es war nicht notwendig, daß Sie sagten, Sie wären evangelisch. Aber Sie haben ja auch so eine Unterstützung bekommen. Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen ein paar Auflärungen geben. Ich heiße Binder. Wollen wir einen Kaffee trinken?«
»Ja, gern. Gibt es hier ein Emigrantencafé oder so etwas?«
»Mehrere. Wir gehen am besten ins Café Greif. Das ist nicht weit von hier, und die Polizei kennt es noch nicht so genau. Bis jetzt war wenigstens noch keine Razzia da.«
Sie gingen zum Café Greif. Es glich dem Café Sperler in Wien wie ein Ei dem andern.
»Woher kommen Sie?« fragte Binder.
»Aus Wien.«
»Da müssen Sie einiges umlernen. Passen Sie auf! Sie können natürlich bei der Polizei eine kurze Aufenthaltserlaubnis bekommen. Nur für ein paar Tage selbstverständlich, dann müssen Sie ’raus. Die Chance, ohne Papiere eine zu bekommen, ist augenblicklich keine zwei Prozent; die Chance, sofort ausgewiesen zu werden, etwa achtundneunzig. Wollen Sie das riskieren?«
»Auf keinen Fall.«
»Richtig! Sie riskieren nämlich außerdem, daß Ihnen sofort die Einreise gesperrt wird – auf ein Jahr, drei Jahre, fünf und mehr, je nachdem. Wenn Sie danach erwischt werden, gibt es Gefängnis.«
»Das weiß ich«, sagte Kern. »Wie überall.«
»Gut. Sie schieben das hinaus, wenn Sie illegal bleiben. Natürlich nur, bis Sie zum erstenmal erwischt werden. Das ist Geschicklichkeits- und Glückssache.«
Kern nickte. »Wie steht es mit Arbeitsmöglichkeiten?«
Binder lachte. »Ausgeschlossen. Die Schweiz ist ein kleines Land und hat selbst genug Arbeitslose.«
»Also das Übliche: legal oder illegal verhungern oder gegen die Gesetze verstoßen.«
»Exakt!« erwiderte Binder glatt und gewandt. »Nun zur Frage der Zonen. Zürich ist sehr heiß. Sehr eifrige Polizei. In Zivil, das ist das Unangenehme. Hier halten sich nur Routiniers. Keine Dilettanten. Gut ist augenblicklich die französische Schweiz. Genf vor allem. Sozialistische Regierung. Das Tessin ist auch nicht schlecht, aber die Städte sind zu klein. Wie arbeiten Sie? Glatt oder mit Pelle?«
»Was heißt das?«
»Das heißt, ob Sie nur versuchen, eine Unterstützung zu bekommen, oder ob Sie dasselbe tun, indem Sie etwas zu verkaufen bei sich haben.«
»Ich möchte etwas verkaufen.«
»Gefährlich. Gilt als Arbeit. Doppelt strafar. Illegaler Aufenthalt und illegale Arbeit. Besonders, wenn Sie angezeigt werden.«
»Angezeigt?«
»Mein Lieber«, erwiderte der Fachmann Binder geduldig belehrend, »ich bin schon einmal von einem Juden angezeigt worden, der mehr Millionen hat als Sie Franken. Er war entrüstet, weil ich ihn um Geld für eine Fahrkarte nach Basel bat. Also, wenn Sie etwas verkaufen, nur kleine Sachen: Bleistife, Schnürsenkel, Knöpfe, Radiergummi, Zahnbürsten und so etwas. Nie einen Koffer, einen Kasten, nicht einmal eine Aktentasche mitnehmen. Selbst damit sind schon Leute ’reingefallen. Alles am besten in den Taschen bei sich
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