Liebe deinen nächsten
los.«
»Traurigkeit ist manchmal – letztes Glück«, sagte Lilo ruhig und gab Kern einen Teller Borschtsch mit Sahne.
Steiner lächelte und strich ihr übers Haar. »Letztes Glück für dich, kleiner Kosmopolit, soll vorläufig eine gute Mahlzeit sein. Die alte Soldatenweisheit. Und du bist ein Soldat, vergiß das nicht. Ein Vorposten. Eine Patrouille. Ein Pionier des Weltbürgertums. Zehn Zollgrenzen kannst du mit einem Flugzeug an einem Tage überfliegen; jede hat die andere nötig-und alle panzern sich mit Eisen und Pulver bis an den Hals gegeneinander. Das bleibt nicht. Du bist einer der ersten Europäer – vergiß das nicht. Sei stolz darauf.«
Kern lächelte. »Alles ganz schön. Ich bin auch stolz darauf. Aber was mache ich heute abend, wenn ich allein bin?«
ER FUHR MIT dem Nachtzuge ab. Er nahm die billigste Klasse und den billigsten Zug und kam auf Umwegen bis Innsbruck. Von da ging er zu Fuß weiter und wartete auf ein Auto, das ihn mitnehmen sollte. Er fand keins. Abends ging er in ein kleines Gasthaus und aß eine Portion Bratkartoffeln; das sättigte und kostete wenig. Nachts schlief er in einem Heustadel. Er wandte dabei die Technik an, die der Dieb im Gefängnis ihm beigebracht hatte. Sie war erstklassig. Am nächsten Morgen fand er ein Auto, das ihn bis Landeck mitnahm. Der Besitzer kaufe ihm für fünf Schilling eine der Göttinnen Direktor Potzlochs ab. Abends begann es zu regnen. Kern blieb in einem kleinen Gasthof und spielte Tarock mit ein paar Holzfällern. Dabei verlor er drei Schilling. Er ärgerte sich so darüber, daß er bis Mitternacht nicht einschlafen konnte. Aber dann fand er es noch ärgerlicher, daß er zwei Schilling für den Schlaf bezahlt hatte und auch noch darum kam; darüber schlief er ein. Morgens ging er weiter. Er hielt ein Auto an, aber der Fahrer verlangte fünf Schilling Fahrgeld von ihm. Es war ein Austro-Daimler im Werte von 5 000 Schilling. Kern verzichtete. Später nahm ihn ein Bauer ein Stück auf seinem Wagen mit und schenkte ihm ein großes Butterbrot. Abends schlief er im Heu. Es regnete, und er lauschte lange auf das monotone Geräusch und roch den herben und erregenden Duf des nassen, gärenden Heus. Am nächsten Tag erkletterte und überschritt er den Arlbergpaß. Er war sehr müde, als er oben von einem Gendarmen abgefaßt wurde. Trotzdem mußte er den Weg zurück neben dem Fahrrad des Gendarmen her bis St. Anton machen. Dort sperrte man ihn eine Nacht ein. Er schlief keine Minute, weil er fürchtete, man würde herausbekommen, daß er in Wien gewesen sei, und ihn zurückschicken und dort verurteilen. Aber man glaubte ihm, daß er über die Grenze wollte und ließ ihn am nächsten Morgen laufen. Er gab jetzt seinen Koffer als Frachtgut bis Feldkirch auf, weil der Gendarm ihn daran erkannt hätte. Einen Tag später war er in Feldkirch, holte seinen Koffer, wartete bis nachts, zog sich aus und überschritt den Rhein, Koffer und Kleider in den hoch erhobenen
Händen. Er war jetzt in der Schweiz. Er marschierte zwei Nächte, bis er die gefährliche Zone hinter sich hatte. Dann gab er seinen Koffer auf der Bahn auf und fand bald darauf ein Auto, das ihn bis Zürich mitnahm.
ES WAR NACHMITTAGS, als er am Hauptbahnhof ankam. Er ließ seinen Koffer an der Gepäckaufewahrungsstelle. Er wußte Ruths Adresse; aber er wollte nicht tagsüber zu ihrer Wohnung gehen. Eine Zeitlang blieb er am Bahnhof; dann erkundigte er sich in einigen jüdischen Geschäfen nach der Flüchtlingsfürsorge. In einer Strumpfwarenhandlung bekam er die Adresse der Kultusgemeinde und ging hin.
Ein junger Mensch empfing ihn. Kern erklärte ihm, daß er gestern über die Grenze gekommen sei.
»Legal?« fragte der junge Mann.
»Nein.«
»Haben Sie Papiere?«
Kern sah ihn erstaunt an. »Wenn ich Papiere hätte, wäre ich nicht hier.«
»Jude?«
»Nein. Halbjude.«
»Religion?«
»Evangelisch.«
»Evangelisch, ach so! Da können wir wenig für Sie tun. Unsere Mittel sind sehr beschränkt, und als religiöse Gemeinde sind unsere Hauptsorge natürlich die – Sie verstehen – Juden unseres Glaubens.«
»Ich verstehe«, sagte Kern. »Aus Deutschland bin ich ’rausgeflogen, weil ich einen jüdischen Vater habe. Sie hier können mir nicht helfen, weil ich eine christliche Mutter habe. Komische Welt!«
Der junge Mann zuckte die Achseln. »Es tut mir leid. Aber wir haben nur private Spenden zur Verfügung.«
»Können
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