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Liebe deinen nächsten

Liebe deinen nächsten

Titel: Liebe deinen nächsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Maria Remarque
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tragen. Das wird jetzt im Herbst leichter, weil Sie einen Mantel anziehen können. Womit handeln Sie?«
      »Seife, Parfüms, Toilettewasser, Kämme, Sicherheitsnadeln und so was Ähnliches.«
      »Gut. Je wertloser ein Gegenstand, desto besser ist der Verdienst. Ich selbst handle grundsätzlich nicht. Ich bin ein einfacher Unterstützungstiger. Vermeide so den Paragraphen wegen illegaler Arbeit und falle nur unter Bettelei und Landstreicherei. Wie ist es mit Adressen? Haben Sie welche?«
      »Was für Adressen?«
      Binder lehnte sich zurück und sah Kern erstaunt an. »Um des Himmels willen!« sagte er. »Das ist doch das wichtigste! Adressen von Leuten, an die Sie sich wenden können, natürlich. Sie können doch nicht aufs Geratewohl von Haus zu Haus laufen! Dann sind Sie ja in drei Tagen erledigt.«
      Er bot Kern eine Zigarette an. »Ich werde Ihnen eine Anzahl zuverlässiger Adressen geben«, fuhr er fort. »Drei Serien – fromm jüdische, gemischte und christliche. Sie bekommen sie umsonst. Ich selbst habe für meine ersten zwanzig Franken zahlen müssen. Die Leute sind natürlich zum Teil furchtbar überlaufen; aber sie machen Ihnen wenigstens keine Schwierigkeiten.«
      Er musterte Kerns Anzug. »Ihre Kleidung ist in Ordnung. Man muß in der Schweiz darauf halten. Wegen der Detektive. Wenigstens der Mantel muß gut sein; er deckt unter Umständen einen zerfetzten Anzug, der Argwohn erwecken könnte. Allerdings gibt es eine Menge Leute, die einem eine Unterstützung verweigern, wenn man noch einen Anzug trägt, den man schont und pflegt. Haben Sie eine gute Geschichte, die Sie erzählen können?«
      Er sah auf und bemerkte Kerns Blick. »Mein Lieber«, sagte er, »ich weiß, was Sie jetzt denken. Ich habe es auch einmal gedacht. Aber glauben Sie mir; selbst sich im Elend zu erhalten, ist schon eine Kunst. Und die Wohltätigkeit ist eine Kuh, die wenig und schwer Milch gibt. Ich kenne Leute, die drei verschiedene Geschichten auf Lager haben, eine sentimentale, eine brutale und eine sachliche; je nachdem, was der Mann, der seine paar Franken Unterstützung ’rausrücken soll, hören will. Sie lügen, gewiß. Aber nur, weil sie müssen. Die Grundgeschichte ist immer dieselbe: Not, Flucht und Hunger.«
      »Ich weiß«, erwiderte Kern. »Daran habe ich auch gar nicht gedacht. Ich war nur verblüf, daß Sie so viel und alles so genau wissen.«
      »Konzentrierte Erfahrung von drei Jahren aufmerksamsten Lebenskampfes. Ich bin gerissen, ja. Das sind wenige. Mein Bruder war es nicht. Er hat sich vor einem Jahr erschossen.«
      Binders Gesicht war einen Augenblick verzerrt. Dann wurde es wieder glatt. Er stand auf. »Wenn Sie nicht wissen, wohin Sie sollen, können Sie die Nacht bei mir schlafen. Ich habe zufallig für eine Woche eine sichere Bude. Das Zimmer eines Züricher Bekannten, der auf Urlaub ist. Ich bin ab elf Uhr hier. Um zwölf ist Polizeistunde. Seien Sie vorsichtig nach zwölf. Es wimmelt dann von Detektiven auf den Straßen.«
      »Die Schweiz scheint verdammt heiß zu sein«, sagte Kern. »Gott sei Dank, daß ich Sie getroffen habe. Ohne Sie wäre ich wahrscheinlich schon am ersten Tage erwischt worden. Ich danke Ihnen herzlich! Sie haben mir sehr geholfen!«
      Binder wehrte ab. »Das ist doch selbstverständlich bei Leuten, die ganz unten sind. Kameraderie der Illegalen – fast wie bei Verbrechern. Jeder von uns kann morgen in der Patsche sein und auch Hilfe brauchen. Also eventuell um elf hier!«
      Er bezahlte den Kaffee, gab Kern die Hand und ging sicher und elegant hinaus.
      Kern wartete im Café Greif, bis es dunkel wurde. Er ließ sich einen Stadtplan geben und zeichnete sich den Weg zu Ruths Wohnung auf. Dann brach er auf und ging rasch, in einer unruhigen Spannung, die Straßen entlang. Es dauerte ungefähr eine halbe Stunde, ehe er das Haus fand. Es lag in einem verwinkelten, ruhigen Stadtteil und schimmerte groß und weiß im Mondlicht. Vor der Tür blieb er stehen. Er blickte auf die breite Messingklinke, und die Spannung erlosch plötzlich. Er glaubte auf einmal nicht, daß er nur eine Treppe hinaufzugehen brauchte, um Ruth zu finden. Es war zu einfach, nach all den Monaten. Er war nicht gewohnt, daß etwas einfach war. Er starrte zu den Fenstern empor. Vielleicht war sie gar nicht im Hause. Vielleicht war sie auch schon nicht mehr in Zürich.
      Er ging an dem Haus vorbei. Ein paar Ecken weiter war ein Tabakladen. Er trat ein. Eine mürrische Frau kam

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