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Liebe deinen nächsten

Liebe deinen nächsten

Titel: Liebe deinen nächsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Maria Remarque
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Mann würde in zwei Stunden seinen Schreibtisch abschließen und zum Abendessen gehen – nachher würde er vielleicht ein Tarock spielen und ein paar Gläser Heurigen trinken – gegen elf Uhr würde er gähnen, seine Zeche zahlen und erklären: »Ich bin müde. Ich gehe nach Hause. Schlafen.« Nach Hause. Schlafen. Um dieselbe Zeit würde die Dunkelheit dicht über den Wäldern und Feldern an der Grenze liegen, die Dunkelheit, die Fremde, die Angst, und verloren darin, allein, stolpernd, müde, mit Sehnsucht nach Menschen und Angst vor Menschen, das winzige, flackernde Fünkchen Leben Ludwig Kern. Und all das nur, weil ihn und den gelangweilten Beamten hinter dem Schreibtisch ein Stück Papier trennte, Paß genannt. Ihr Blut hatte die gleiche Temperatur, ihre Augen hatten die gleiche Konstruktion, ihre Nerven reagierten auf die gleichen Reize, ihre Gedanken liefen in den gleichen Bahnen – und doch trennte sie ein Abgrund, nichts war gleich bei ihnen, das Behagen des einen war die Qual des andern, sie waren Besitzender und Ausgestoßener, und der Abgrund, der sie trennte, war nur ein kleines Stück Papier, auf dem nichts weiter stand als ein Name und ein paar belanglose Daten.
      »Hier rechts«, sagte der Beamte. »Vor- und Zuname.«
      Kern riß sich zusammen und unterschrieb.
      »An welche Grenze wollen Sie gestellt werden?« fragte der Beamte.
      »An die tschechische.«
      »Gut. In einer Stunde geht’s los. Es wird Sie jemand hinbringen.«
      »Ich habe noch ein paar Sachen in dem Hause, wo ich gewohnt habe. Kann ich die vorher abholen?«
      »Was für Sachen?«
      »Einen Koffer mit Wäsche und so was.«
      »Gut. Sagen Sie es dem Beamten, der Sie an die Grenze bringt. Sie können vorbeigehen.«
      Der Inspektor führte Kern wieder hinunter und nahm Steiner mit hinauf. »Was war los?« fragte das Poulet neugierig.
      »In einer Stunde kommen wir ’raus.«
      »Jesus Christus!« sagte der Pole. »Geht Scheiße dann wieder los.«
      »Möchtest du hier bleiben?« fragte das Poulet.
      »Wenn Essen bessärr – und kleine Posten als Kalfaktor – gärrne.«
      Kern nahm sein Taschentuch hervor und rieb seinen Anzug sauber, so gut es ging. Sein Hemd war sehr schmutzig geworden in den vierzehn Tagen. Er drehte die Manschetten um. Er hatte sie die ganze Zeit geschont. Der Pole sah ihm zu. »In ein, zwei Jahren das dirr ganz eggal«, prophezeite er.
      »Wohin gehst du?« fragte das Poulet.
      »Tschechei. Und du? Nach Ungarn?«
      »Schweiz. Hab’s mir überlegt. Komm mit. Von da lassen wir uns dann nach Frankreich schieben.«
      Kern schüttelte den Kopf. »Nein, ich will sehen, daß ich nach Prag komme.«
      Ein paar Minuten später wurde Steiner wieder hereingebracht. »Weißt du, wie der Polizist heißt, der mich bei der Verhafung ins Gesicht geschlagen hat?« fragte er Kern. »Leopold Schäfer. Er wohnt Trautenaugasse siebenundzwanzig. Sie haben es mir aus dem Protokoll vorgelesen. Natürlich nicht, daß er mich geschlagen hat. Nur daß ich ihn bedroht hätte.« Er sah Kern an. »Glaubst du, daß ich den Namen und die Adresse vergessen werde?«
      »Nein«, sagte Kern. »Bestimmt nicht.«
      »Das meine ich auch!«
      Ein Kriminalbeamter in Zivil holte Steiner und Kern ab. Kern war aufgeregt. Vor der Tür blieb er unwillkürlich stehen. Das Bild, das er sah, prallte wie ein weicher, südlicher Wind gegen seine Stirn. Der Himmel war blau und ein wenig dämmerig über den Häusern, die Giebel leuchteten im letzten, roten Schein der Sonne, der Donaukanal schimmerte, und auf der Straße schoben sich beglänzte Autobusse durch den Strom heimkehrender und spazierender Menschen. Eine Schar Mädchen in hellen Kleidern drängte lachend und eilig dicht vorbei. Kern glaubte, noch nie etwas so Schönes gesehen zu haben.
      »Los, gehen wir«, sagte der Kriminalbeamte.
      Kern zuckte zusammen. Beschämt sah er an sich herunter. Er bemerkte, daß ein Vorbeigehender ihn ungeniert musterte. Sie gingen durch die Straßen, der Beamte in der Mitte. Die Cafés hatten Tische und Stühle herausgestellt, und überall saßen fröhliche, plaudernde Menschen. Kern senkte den Kopf und begann, schneller zu gehen. Steiner sah ihn mit gutmütigem Spott an. »Na, Kleiner, ist nichts für uns, was? Das da.«
      »Nein«, erwiderte Kern und preßte die Lippen zusammen.
      Sie kamen zu ihrer Pension. Die Wirtin empfing sie mit einer Mischung von Ärger und Mitleid. Sie gab ihnen ihre

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