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Liebe deinen nächsten

Liebe deinen nächsten

Titel: Liebe deinen nächsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Maria Remarque
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und gingen weiter. Nach einer Weile blieb Steiner stehen. »Jetzt sind wir über die Grenze«, sagte er. Seine Augen waren hell und fast gläsern in dem durchscheinenden Licht. Er sah Kern an. »Wachsen die Bäume anders? Riecht der Wind anders? Sind es nicht dieselben Sterne? Sterben die Menschen anders?«
      »Nein«, sagte Kern. »Das nicht. Aber ich fühle mich anders.«
      Sie suchten sich einen Platz unter einer alten Buche, wo sie vor Sicht geschützt waren. Vor ihnen lag eine langsam abfallende Wiese. In der Ferne schimmerten die Lichter eines slowakischen Dorfes. Steiner band seinen Rucksack auf, um nach Zigaretten zu suchen. Dabei sah er auf Kerns Koffer. »Ich habe gefunden, daß ein Rucksack praktischer ist als ein Koffer. Er fällt nicht so auf. Man hält dich für einen harmlosen Wandervogel.«
      »Wandervögel revidiert man auch«, erwiderte Kern. »Alles, was arm aussieht, revidiert man. Ein Auto wäre das beste.«
      Sie zündeten sich Zigaretten an. »Ich gehe in einer Stunde zurück«, sagte Steiner. »Und du?«
      »Ich will versuchen, nach Prag zu kommen. Die Polizei ist da besser. Man bekommt leicht ein paar Tage Aufenthaltserlaubnis, und dann muß man weitersehen. Vielleicht finde ich auch meinen Vater, und er kann mir helfen. Ich habe gehört, er wäre da.«
      »Weißt du, wo er wohnt?«
      »Nein.«
      »Wieviel Geld hast du?«
      »Zwölf Schilling.«
      Steiner kramte in seiner Rocktasche. »Hier hast du etwas dazu. Das reicht ungefähr bis Prag.«
      Kern blickte auf. »Nimm’s ruhig«, sagte Steiner. »Ich habe noch genug für mich.«
      Er zeigte ein paar Scheine. Kern konnte es im Schatten der Bäume nicht sehen, was für welche es waren. Er zauderte einen Augenblick. Dann nahm er das Geld.
      »Danke«, sagte er.
      Steiner erwiderte nichts. Er rauchte. Die Zigarette glomm auf, wenn er zog, und beleuchtete sein verschattetes Gesicht. »Weshalb bist du eigentlich unterwegs?« fragte Kern zögernd. »Du bist doch kein Jude!«
      Steiner schwieg eine Zeitlang. »Nein, ich bin kein Jude«, sagte er endlich.
      Es raschelte im Gebüsch hinter ihnen. Kern sprang auf. »Ein Hase oder ein Kaninchen«, sagte Steiner. Dann wandte er sich Kern zu. »Damit du daran denken kannst, Kleiner, wenn du mal verzweifelst. Du bist draußen, dein Vater ist draußen, deine Mutter ist draußen. Ich bin draußen – aber meine Frau ist in Deutschland. Und ich weiß nichts von ihr.«
      Es raschelte wieder hinter ihnen. Steiner drückte seine Zigarette aus und lehnte sich an den Stamm der Buche. Es begann zu wehen. Der Mond hing über dem Horizont. Ein Mond, kreidig und unbarmherzig wie in jener letzten Nacht.

    NACH SEINER FLUCHT aus dem Konzentrationslager hatte Steiner sich eine Woche lang bei einem Freunde verborgen gehalten. Er hatte in einer abgeschlossenen Dachkammer gesessen, immer bereit, über das Dach zu fliehen, wenn er ein verdächtiges Geräusch hören würde. Nachts brachte ihm der Freund Brot, Konserven und ein paar Flaschen Wasser. In der zweiten Nacht ein paar Bücher. Steiner las sie tagsüber immer wieder, um sich abzulenken. Seine Notdurf mußte er in einen Topf verrichten, der in einem Pappkarton verborgen war. Der Freund holte ihn nachts herunter und brachte ihn wieder hinauf. Sie mußten so vorsichtig sein, daß sie kaum miteinander flüsterten; die Dienstmädchen, die nebenan schliefen, hätten sie hören und verraten können.
      »Weiß Marie es?« fragte Steiner in der ersten Nacht.
      »Nein. Das Haus ist bewacht.«
      »Ist ihr etwas passiert?«
      Der Freund schüttelte den Kopf und ging.
      Steiner fragte immer dasselbe. Jede Nacht. In der vierten Nacht brachte der Freund endlich die Nachricht, daß er sie gesehen habe. Sie wisse jetzt, wo er sei. Er habe es ihr zuflüstern können. Morgen sähe er sie wieder. Auf dem Wochenmarkt im Gedränge. Steiner verbrachte den nächsten Tag damit, ihr einen Brief zu schreiben, den der Freund ihr zustecken sollte. Abends zerriß er ihn. Er wußte nicht, ob man sie beobachtete. Nachts bat er aus demselben Grunde den Freund, sie nicht mehr zu treffen. Er blieb noch drei Nächte in der Kammer. Endlich kam der Freund mit Geld, einer Fahrkarte und einem Anzug. Steiner schnitt sich das Haar und wusch es mit Wasserstoffsuperoxyd hell. Dann rasierte er sich den Schnurrbart ab. Vormittags verließ er das Haus. Er trug eine Monteurjacke und einen Kasten mit Werkzeug. Er sollte sofort aus der Stadt hinaus;

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