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Liebe deinen nächsten

Liebe deinen nächsten

Titel: Liebe deinen nächsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Maria Remarque
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eine Zeitlang nach. Dann schüttelte er den Kopf.
      »Ich meine jemand, der gestern abend hier war. Er hat ein Zimmer verlangt.«
      »Gestern abend hat niemand ein Zimmer verlangt. Ich war ja gar nicht da. Ich war bis zwölf Uhr kegeln.«
      »Ach so! Hatten Sie denn Zimmer frei?«
      »Ja, drei. Die sind auch heute noch frei. Erwarten Sie noch jemand? Sie können Nummer sieben haben, auf Ihrem Korridor.«
      »Nein. Ich glaube nicht, daß der, auf den ich warte, wiederkommt. Er wird schon unterwegs nach Zürich sein.«
      Mittags hatte Kern drei Franken verdient. Er ging in ein billiges Restaurant, um ein Butterbrot zu essen und dann gleich weiter zu hausieren.
      Er blieb an der Teke stehen und aß hungrig. Plötzlich fiel ihm das Sandwich fast aus der Hand. Er hatte an einem der entferntesten Tische Binding erkannt.
      Mit einem Ruck steckte er den Rest des Butterbrotes in den Mund, schluckte es herunter und ging langsam auf den Tisch zu. Binding saß allein, die Ellenbogen aufgestemmt, vor einer großen Schüssel Schweinekoteletts mit Rotkohl und Kartoffeln und aß selbstvergessen.
      Er blickte erst auf, als Kern dicht vor ihm stand. »Ah, sieh da!« sagte er nachlässig. »Wie geht’s?«
      »Mir fehlen vierzig Franken in meiner Briefasche«, sagte Kern.
      »Bedauerlich«, erwiderte Binding und schluckte ein großes Stück Braten hinunter. »Wirklich bedauerlich!«
      »Geben Sie mir den Rest, den Sie noch haben, heraus, und die Sache ist erledigt.«
      Binding trank einen Schluck Bier und wischte sich den Mund. »Die Sache ist auch so erledigt«, erklärte er gemütlich. »Oder was hatten Sie sonst vor zu tun?«
      Kern starrte ihn an. Er hatte in seiner Wut bisher noch nicht daran gedacht, daß er tatsächlich nichts tun konnte. Wenn er zur Polizei ging, wurde er nach Papieren gefragt und selbst mit eingesperrt und ausgewiesen.
      Er musterte Binding mit zusammengekniffenen Augen. »Keine Chance«, sagte dieser. »Sehr guter Boxer. Vierzig Pfund schwerer als Sie. Außerdem: bei Krach im Lokal Polizei und Ausweisung.«
      Kern hätte im Augenblick wenig danach gefragt, was mit ihm selbst passiert wäre; aber er dachte an Ruth. Binding hatte recht: Es gab nicht die geringste Chance für ihn, etwas zu tun. »Machen Sie so was öfer?« fragte er.
      »Ich lebe davon. Und wie Sie sehen, gut.«
      Kern erstickte fast vor ohnmächtiger Erbitterung. »Geben Sie mir wenigstens zwanzig Franken zurück«, sagte er heiser. »Ich brauche das Geld. Nicht für mich. Für jemand anders, dem es gehört.«
      Binding schüttelte den Kopf. »Ich brauche das Geld selbst. Sie sind billig davongekommen. Sie haben für vierzig Franken die größte Lehre empfangen, die es im Leben gibt: nicht vertrauensselig zu sein.«
      »Das stimmt.« Kern starrte ihn an. Er wollte gehen, aber er konnte nicht. »Ihre ganzen Papiere … das war natürlich alles Schwindel!«
      »Denken Sie an, nein!« erwiderte Binding. »Ich war im Konzentrationslager.« Er lachte. »Allerdings wegen Diebstahls bei einem Gauleiter. Seltener Fall!«
      Er langte nach dem letzten Kotelett, das noch in der Schüssel lag. Im nächsten Moment hatte Kern es in der Hand. »Machen Sie ruhig Skandal«, sagte er.
      Binding grinste. »Ich denke nicht daran! Ich bin ziemlich satt. Lassen Sie sich einen Teller bringen und nehmen Sie von dem Rotkohl dazu. Ich bin sogar bereit, Ihnen ein Glas Bier zu spendieren!«
      Kern erwiderte nichts. Er war an der Grenze, sich zu prügeln, mit allem, was ihm in die Hand gekommen wäre. Rasch drehte er sich um und ging, das erbeutete Kotelett in der Hand. An der Teke ließ er sich etwas Papier geben, um es einzupacken. Das Servierfräulein sah ihm neugierig zu. Dann fischte es zwei Gurken aus einem Glase. »Hier«, sagte sie. »Etwas dazu.«
      Kern nahm auch die Gurken. »Danke«, sagte er. »Danke vielmals.« Ein Abendessen für Ruth, dachte er. Verdammt und verflucht, für vierzig Franken!
      An der Tür drehte er sich noch einmal um. Binding beobachtete ihn. Kern spuckte aus. Binding salutierte lächelnd mit zwei Fingern der rechten Hand.

    HINTER BERN BEGANN es zu regnen. Ruth und Kern hatten nicht mehr genug Geld, um die Eisenbahn bis zum nächsten größeren Ort zu nehmen. Sie besaßen zwar noch eine kleine eiserne Reserve, aber die wollten sie erst in Frankreich angreifen. Ungefähr fünfzig Kilometer weit nahm ein vorüberkommendes Auto sie mit. Dann mußten sie zu Fuß

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