Liebe deinen nächsten
Fuß vor – weiter; er war jetzt ganz konzentriert, er sah Steiner suchen und schob den Fuß noch weiter vor.
Im rötlichen Licht der Glühbirne schwankte sein Schatten armselig und verschroben an der Wand mit.
»WAS UNSER KLEINER wohl macht, Lilo?« sagte um dieselbe Zeit Steiner. »Weiß der Himmel, es ist nicht allein wegen des dämlichen Goldbach … er fehlt mir tatsächlich of, der Kleine!«
Kern und Ruth waren in Bern. Sie wohnten in der
Pension Immergrün. Sie stand auf Binders Liste. Man
konnte dort zwei Tage bleiben, ohne polizeilich angemeldet zu werden.
Am zweiten Abend klopfe es sehr spät an Kerns Zimmertür. Er war schon ausgezogen und gerade dabei, zu Bett zu gehen. Ohne sich zu rühren, wartete er einen Moment. Es klopfe wieder. Lautlos, auf nackten Füßen, lief er zum Fenster. Es war zu hoch, um herunterzuspringen, und es gab auch nirgendwo eine Regenrinne, um daran hochzuklettern. Langsam ging er zurück und öffnete die Tür.
Ein Mann von etwa dreißig Jahren stand draußen. Er war einen Kopf größer als Kern, hatte ein rundes Gesicht mit wasserblauen Augen und weißblonden, krausen Haaren und hielt einen grauen Velourshut in den Händen, an dem er nervös herumfingerte.
»Entschuldigen Sie«, sagte er, »ich bin ein Emigrant wie Sie …«
Kern hatte das Gefühl, als wüchsen ihm plötzlich Flügel. Gerettet! dachte er. Keine Polizei!
»Ich bin in großer Verlegenheit«, fuhr der Mann fort. »Binding ist mein Name. Richard Binding. Ich bin unterwegs nach Zürich und habe keinen Centime mehr, um irgendwo unterzukommen für die Nacht. Ich will Sie nicht um Geld bitten. Ich wollte Sie nur fragen, ob ich die Nacht hier auf dem Fußboden schlafen kann.«
Kern sah ihn an. »In diesem Zimmer? Auf dem Fußboden?«
»Ja. Ich bin das gewohnt, und ich werde Sie bestimmt nicht stören. Ich bin jetzt seit drei Nächten unterwegs. Sie wissen, wie das ist, draußen auf den Bänken mit der ewigen Angst vor der Polizei. Da ist man froh, wenn man irgendwo ein paar Stunden sicher ist.«
»Das weiß ich. Aber sehen Sie sich doch das Zimmer an! Es ist ja nirgendwo so viel Platz, daß Sie sich lang ausstrecken können. Wie wollen Sie denn da schlafen?«
»Das macht nichts!« erklärte Binding eifrig. »Das geht schon! Dort in der Ecke zum Beispiel! Ich kann im Sitzen schlafen und mich gegen den Schrank lehnen. Das geht sehr gut! Wenn man nur etwas Ruhe hat, kann unsereins doch überall schlafen!«
»Nein, das geht nicht.« Kern überlegte einen Moment. »Ein Zimmer hier kostet zwei Franken. Ich kann Ihnen das Geld geben. Das ist am einfachsten. Dann können Sie gründlich ausschlafen.«
Binding hob abwehrend die Hände. Sie waren groß und rot und dick. »Ich will kein Geld von Ihnen! Dazu bin ich nicht gekommen! Wer hier wohnt, braucht seine paar Groschen selber!
Und dann – ich war schon unten und habe gefragt, ob ich nicht irgendwo schlafen könnte. Es ist kein Zimmer frei.«
»Vielleicht ist eins frei, wenn Sie zwei Franken in der Hand haben.«
»Ich glaube nicht. Der Wirt sagte mir, er würde jemand, der zwei Jahre im Konzentrationslager war, immer umsonst schlafen lassen. Aber er hätte tatsächlich kein Zimmer frei.«
»Was?« sagte Kern, »Sie waren zwei Jahre im Konzentrationslager?«
»Ja.« Binding klemmte seinen Velourshut zwischen die Knie und holte aus seiner Brusttasche einen zerschlissenen Ausweis hervor. Er faltete ihn auseinander und gab ihn Kern. »Hier – sehen Sie! Das ist mein Entlassungsschein aus Oranienburg.«
Kern nahm den Schein vorsichtig, um die brüchigen Faltkniffe nicht zu zerreißen. Er hatte noch nie ein Entlassungszeugnis aus dem Konzentrationslager gesehen. Er las den Aufdruck, den vorgedruckten Text, den mit Schreibmaschine eingefügten Namen Richard Binding – dann blickte er auf den Stempel mit dem Hakenkreuz und die saubere, klare Unterschrif des Beamten – es stimmte. Es stimmte sogar in einer pedantisch ordentlichen und bürokratischen Weise, und gerade das machte das Ganze fast unheimlich – als käme jemand mit einer Aufenthaltserlaubnis und einem Visum aus dem Inferno wieder.
Er gab den Schein an Binding zurück. »Hören Sie«, sagte er, »ich weiß, was wir machen! Sie nehmen mein Bett und Zimmer. Ich kenn jemand in der Pension, der ein größeres Zimmer hat. Ich kann dort sehr gut schlafen. So ist uns beiden geholfen.«
Binding starrte ihn
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