Liebe deinen nächsten
mit runden Augen an. »Aber das ist doch ganz unmöglich!«
»Im Gegenteil! Es ist das Leichteste von der Welt!« Kern nahm seinen Mantel und streife ihn über seinen Pyjama. Dann legte er seinen Anzug über den Arm und griff nach seinen Schuhen. »Sehen Sie! Ich nehme das mit. So brauche ich Sie nicht einmal allzu früh zu stören. Ich kann mich drüben anziehen. Es freut mich, etwas tun zu können für jemand, der so viel mitgemacht hat.«
»Aber …« Binding ergriff plötzlich Kerns Hände. Es sah aus, als wollte er sie küssen. »Mein Gott, Sie sind ja ein Engel!« stammelte er. »Ein Lebensretter!«
»Ach wo!« erwiderte Kern verlegen. »Einer hilf dem andern mal aus, das ist alles. Was sollte sonst aus uns werden? Schlafen Sie gut!«
»Das werde ich! Weiß der Himmel!«
Kern überlegte einen Moment, ob er seinen Koffer mitnehmen sollte. Er hatte in einer kleinen Seitentasche darin vierzig Franken versteckt. Aber das Geld war gut versteckt, der Koffer war abgeschlossen, und er scheute sich, einem Mann, der im Konzentrationslager gewesen war, so offen sein Mißtrauen zu zeigen. Emigranten stehlen nicht untereinander. »Gute Nacht! Schlafen Sie gut!« sagte er noch einmal und ging.
Ruth wohnte auf demselben Korridor. Kern klopfe zweimal kurz an ihrer Tür. Das war das Zeichen, das sie miteinander ausgemacht hatten. Sie öffnete sofort. »Ist etwas passiert?« fragte sie erschrocken, als sie die Sachen in seiner Hand sah. »Müssen wir ausreißen?«
»Nein. Ich habe nur mein Zimmer so einem armen Teufel gegeben, der im Konzentrationslager war und ein paar Nächte nicht geschlafen hat. Kann ich hier bei dir auf der Chaiselongue schlafen?«
Ruth lächelte. »Die Chaiselongue ist alt und wackelig; aber glaubst du nicht, daß das Bett groß genug ist für uns beide?«
Kern trat rasch ein und küßte sie. »Ich stelle manchmal wirklich die dümmsten Fragen der Welt«, sagte er. »Aber glaube mir, es ist nur Verlegenheit. Es ist alles noch zu neu für mich.«
Ruths Zimmer war etwas größer als das andere. Es war, abgesehen von der Chaiselongue, ähnlich möbliert – aber Kern fand, daß es völlig anders aussah. Sonderbar, dachte er – es müssen die paar Sachen sein, die sie darin hat – die schmalen Schuhe, die Bluse, der braune Rock – wieviel Zärtlichkeit darin ist! Mit meinen Sachen sieht ein Zimmer nur unordentlich aus.
»Ruth«, sagte er, »wenn wir heiraten wollten … weißt du, daß wir das gar nicht könnten? Weil wir keine Papiere haben.«
»Ich weiß. Aber das soll unsere geringste Sorge sein. Wozu haben wir überhaupt eigentlich zwei Zimmer?«
Kern lachte. »Wegen der hohen Schweizer Moral. Unangemeldet, das geht noch – aber unverheiratet, das ist unmöglich!«
Er wartete am nächsten Morgen bis zehn. Dann ging er hinüber, um seinen Koffer zu holen. Er wollte ein paar Adressen abklappern und Binding weiterschlafen lassen.
Aber das Zimmer war schon leer. Binding war vermutlich schon wieder unterwegs. Kern öffnete seinen Koffer. Er war nicht verschlossen, das wunderte ihn. Er glaubte bestimmt, ihn abends abgeschlossen zu haben. Es schien ihm auch, als ob die Flaschen anders lägen, als er es gewohnt war. Er suchte rasch. Das kleine Kuvert in der versteckten Seitentasche war da. Er klappte es auf und sah sofort, daß sein Schweizer Geld fehlte. Nur zwei einsame österreichische Fünfschillingscheine flatterten ihm entgegen.
Er suchte noch einmal alles durch; auch seinen Anzug, obschon er sicher war, das Geld nicht darin zu haben. Er trug nie etwas bei sich, für den Fall, daß er unterwegs abgefaßt wurde. Ruth hatte so immer wenigstens noch den Koffer und das Geld. Aber die vierzig Franken waren verschwunden.
Er setzte sich auf den Boden neben den Koffer. »Dieser Gauner«, sagte er fassungslos. »Dieser verfluchte Gauner! Ist denn so etwas möglich?«
Er blieb eine Weile so sitzen. Dann überlegte er, ob er Ruth Bescheid sagen sollte; aber er beschloß, das erst zu tun, wenn es nicht anders mehr möglich war. Er wollte sie nicht früher als unbedingt notwendig beunruhigen.
Schließlich nahm er die Listen Binders heraus und notierte sich eine Anzahl Berner Adressen. Dann packte er seine Taschen voll Seife, Schnürsenkel, Sicherheitsnadeln und Toilettewasser und ging die Treppen hinunter.
Unten traf er den Wirt. »Kennen Sie einen Mann, der Richard Binding heißt«, fragte er.
Der Wirt dachte
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